Irgend­wann in den 70er-Jahren, als in Basel eine arbeit­er­schaftliche Bib­lio­thek aufgelöst wurde und ich mir auf den Tipp eines Stu­di­enkol­le­gen hin Büch­er holen durfte, fiel mir das bekan­nteste Werk des Anar­chis­ten Pjotr Alex­e­je­w­itsch Kropotkin in die Hand: Gegen­seit­ige Hil­fe in der Tier- und Men­schen­welt”, in dem er dem Darwin’schen “Kampf ums Dasein” das Konzept der gegen­seit­i­gen Hil­fe als wichti­gen Fak­tor in der Evo­lu­tion gegenüberstellte.

Heute fällt sein Name meist im Zusam­men­hang mit der anar­chis­tis­chen Bewe­gung — zu Recht, denn Kropotkin, der aus adeligem Hause stammte, war ein wichtiger Pfeil­er des frei­heitlichen Sozial­is­mus -, aber er machte sich auch einen inter­na­tionalen Namen als Geograf.

Sein Leben ist insofern mit der Schweiz ver­bun­den, als er sich nach aus­gedehn­ten Forschungsreisen in Sibirien 1872 in den Jura begab, um sich mit Michail Bakunin zu tre­f­fen, der ger­ade daran war, in St.Imier die Anti­au­toritäre Inter­na­tionale zu grün­den. In seinen “Mem­oiren eines Rev­o­lu­tionärs” schrieb Kropotkin über seine Begeg­nung mit der Juraföder­a­tion:
Die Art wie jed­er jeden als Gle­ichen sah und behan­delte, die ich in den juras­sis­chen Bergen fand, die Unab­hängigkeit im Denken und im Aus­druck, wie ich sie sich unter den dor­ti­gen Arbeit­ern entwick­eln sah, und ihre gren­zen­lose Hingabe an die gemein­same Sache sprachen meine Gefüh­le noch viel mehr an; und als ich die Berge nach ein­er guten Woche Aufen­thalt bei den Uhrma­ch­ern wieder hin­ter mir ließ, standen meine sozial­is­tis­chen Ansicht­en fest: Ich war ein Anarchist.

Nach sein­er Rück­kehr nach Peters­burg begann er für die neuen Ideen zu wer­ben, wurde ver­haftet und in der berüchtigten Peter-Pauls-Fes­tung eingek­erk­ert, kon­nte aber 1876 fliehen und kehrte in die Westschweiz zurück, wo er die inter­na­tionale Zeitung «Le Révolté» grün­det. In seinen zwanzig Jahre später pub­lizierten Mem­oiren schreibt Kropotkin, er habe die kom­plizierten his­torischen und ökonomis­chen The­men so zu for­mulieren ver­sucht, dass jed­er intel­li­gente Arbeit­er sie ver­ste­he. Ein rev­o­lu­tionäres Blatt müsse die Ankun­ft ein­er neuen Gesellschaft verkün­den und den wach­senden Wider­stand gegen die antiquierten Insti­tu­tio­nen auf­greifen: «Die Basis der erfol­gre­ichen Rev­o­lu­tion ist Hoff­nung, nicht Verzwei­flung.» (aus NZZ-Artikel 13.9.21Doch schon 1881 wurde er auf Druck der rus­sis­chen Regierung aus der Schweiz aus­gewiesen und lebte for­t­an in Frankre­ich und Eng­land, bis er 1917 nach Rus­s­land zurück­kehrte, wo er 1921 starb.

Fritz Brup­bach­er war ver­ständlicher­weise hocher­freut, als er 1905 die Bekan­ntschaft mit dieser Ikone des anar­chis­tis­chen Denkens machen durfte. Aber sein Urteil war differenziert:
Auf mich hat er vor allem gewirkt durch seinen Opti­mis­mus in bezug auf die men­schliche Natur. Angeregt durch seine «Gegen­seit­ige Hil­fe», habe ich eine nie pub­lizierte Arbeit über den Zer­fall des Gemeineigen­tums in der Schweiz geschrieben, war über­haupt vielfach durch ihn befruchtet wor­den. Er war ein außeror­dentlich lebendi­ger Men­sch. Ein fröh­lich­er San­guiniker, der tüchtig schimpfen kon­nte, wenn ihm ein­er oder etwas nicht gefiel. Ein­er, der sich von Ideen hin­reißen ließ. … 

Viele sein­er Fre­unde haben ihn einen poli­tis­chen Poet­en genan­nt ; sich­er ist, daß er auf uns, vor allem auf dem Weg über die Phan­tasie, wirk­te — daß er in jen­er Zeit fast der einzige Sozial­ist war, der es ver­mochte, Träume von der kün­fti­gen Gesellschaft zu weck­en. Während der Marx­is­mus nur die Außen­welt in Betra­cht zog, das bloße Betra­cht­en der Außen­welt lehrte, so weck­te Kropotkin das Wün­schende, Träu­mende, die Natur des Men­schen sel­ber, den Teil des Men­schen, der genießen und schaf­fen will. Bei all seinen Betra­ch­tun­gen ging er aus von der wol­len­den Natur des Men­schen, sah in ihr die große und alless­chaf­fende Kraft. … So war Kropotkin für uns ein großer Anreger, wenn wir auch in vie­len Einzel­heit­en mit ihm nicht mit­gin­gen. Er war ein außeror­dentlich belebendi­gen­der Mensch.

Der Zufall wollte es, dass ger­ade James Guil­laume bei Kropotkin zu Gast war. Guil­laume, der in der Juraföder­a­tion eine zen­trale Rolle gespielt hat­te, war an der Wand­lung Kropotkins zum Anar­chis­ten mass­ge­blich beteiligt gewe­sen. Mit Guil­laume zusam­men fuhr er zurück nach Paris.
Ich habe ihn auch in Paris noch während acht Tagen täglich gese­hen, und er hat mir alle seine Schätze aus der Ersten Inter­na­tionale gezeigt und acht Tage lang von Michel Bakunin gesprochen.
Diese Gespräche mit Guil­laume, einem eigen­ständi­gen Mitar­beit­er Bakunins, halfen Brup­bach­er später, die Mono­grafie “Der Rev­o­lutinär Michael Bakunin. Der Satan der Revolte” her­auszugeben.
Wer die Tätigkeit von James Guil­laume etwas näher ken­nen­ler­nen möchte, find­et hier eine gute Einführung.

Wie wichtig diese Begeg­nun­gen für ihn waren, zeigte sich in seinem abschliessenden Urteil
Ich erlebte bei Kropotkin und Guil­laume das erstemal im Leben das Gefühl, echte rev­o­lu­tionäre Kam­er­aden angetrof­fen zu haben.

Die Jahre 1905/06 wur­den für Brup­bach­er auch in ander­er Hin­sicht wichtig, als in der Auto­mo­bil­fab­rik Arbenz in Albis­rieden ein Streik mit einem Mil­itäraufge­bot niedergeschla­gen wurde.

Dazu mehr in der näch­sten Folge am Sam­stag, den 26. März.

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