Wie ist es mög­lich, dass man glaubt, der Kai­ser tra­ge schö­ne Klei­der, obwohl er nackt ist? Erich Fromm:
Dass die Men­schen Uni­for­men und Titel für Kom­pe­tenz ver­lei­hen­de Qua­li­tä­ten hal­ten, geschieht nicht ganz von selbst. Die Inha­ber der Auto­ri­tät und jene, die Nut­zen dar­aus zie­hen, müs­sen die Men­schen von die­ser Fik­ti­on über­zeu­gen und ihr rea­lis­ti­sches, das heißt kri­ti­sches Denk­ver­mö­gen ein­schlä­fern. Jeder den­ken­de Mensch kennt die Metho­den der Pro­pa­gan­da, Metho­den, durch die die kri­ti­sche Urteils­kraft zer­stört und der Ver­stand ein­ge­lullt wird, bis er sich Kli­schees unter­wirft, die die Men­schen ver­dum­men, weil sie sie abhän­gig machen, und sie der Fähig­keit berau­ben, ihren Augen und ihrer Urteils­kraft zu ver­trau­en. Die­se Fik­ti­on, an die sie glau­ben, macht sie für die Rea­li­tät blind

Was Fromm hier prä­gnant zusam­men­fasst, erle­ben wir heu­te gera­de in erschre­cken­dem Aus­mass sowohl in Russ­land wie in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten, — zwei Län­der, in denen ein Dik­ta­tor und ein Möch­te­gern-Dik­ta­tor sämt­li­che Mani­pu­la­ti­ons-Regis­ter zie­hen, um ihr ver­que­res Welt­bild in den Köp­fen der Bevöl­ke­rung zu verankern.

Eine der berühm­ten vier Fra­gen von Imma­nu­el Kant lau­te­te: Was kann ich wis­sen? Er mein­te damit eine Art von Wis­sen, das Fromm “funk­tio­nal” nennt, — im Gegen­satz zum “Wis­sen haben”:
Der Unter­schied zwi­schen den Exis­ten­zwei­sen des Habens und Seins auf dem Gebiet des Wis­sens drückt sich in den For­mu­lie­run­gen „ich habe Wis­sen“ und „ich weiß“ aus. Wis­sen zu haben heißt, ver­füg­ba­res Wis­sen (Infor­ma­ti­on) zu erwer­ben und in sei­nem Besitz zu hal­ten; Wis­sen im Sinn von „ich weiß“ ist funk­tio­nal und Teil des pro­duk­ti­ven Denkprozesses.

Was Fromm im fol­gen­den zu die­sem Unter­schied aus­führt, scheint dem birsfälder.li-Schreiberling so wich­tig, dass er sich erlaubt, des­sen Gedan­ken aus­führ­lich zu zitieren:

Unser Ver­ständ­nis der Eigen­art des Wis­sens bei einem Men­schen, der in der Wei­se des Seins lebt, kön­nen wir ver­tie­fen, wenn wir uns ver­ge­gen­wär­ti­gen, was Den­ker wie Bud­dha, die Pro­phe­ten, Jesus, Meis­ter Eck­hart, Sig­mund Freud und Karl Marx ver­tre­ten haben. Wis­sen beginnt in ihren Augen mit der Erkennt­nis der Täu­schun­gen durch die Wahr­neh­mun­gen unse­res soge­nann­ten gesun­den Men­schen­ver­stan­des; nicht nur in dem Sinn, dass unser Bild der phy­si­schen Rea­li­tät nicht der „tat­säch­li­chen Wirk­lich­keit“ ent­spricht, son­dern ins­be­son­de­re in dem Sinn, dass die meis­ten Men­schen halb wachen und halb träu­men und nicht gewahr sind, dass das meis­te des­sen, was sie für wahr und selbst­ver­ständ­lich hal­ten, Illu­sio­nen sind, die durch den sug­ges­ti­ven Ein­fluss des gesell­schaft­li­chen Umfelds her­vor­ge­ru­fen wer­den, in dem sie leben. 

Wis­sen beginnt dem­nach mit der Zer­stö­rung von Täu­schun­gen, mit der „Ent­täu­schung“. Wis­sen bedeu­tet, durch die Ober­flä­che zu den Wur­zeln und damit zu den Ursa­chen vor­zu­drin­gen, die Rea­li­tät in ihrer Nackt­heit zu „sehen“. Wis­sen bedeu­tet nicht, im Besitz von Wahr­heit zu sein, son­dern durch die Ober­flä­che zu drin­gen und kri­tisch und tätig nach immer grö­ße­rer Annä­he­rung an die Wahr­heit zu streben.

Die­se Qua­li­tät des schöp­fe­ri­schen Ein­drin­gens ist in dem hebräi­schen jadoa ent­hal­ten, das Erken­nen und Lie­ben im Sin­ne des männ­li­chen sexu­el­len Ein­drin­gens bedeu­tet. Bud­dha, der Erwach­te, for­dert die Men­schen auf, zu erwa­chen und sich von der Illu­si­on zu befrei­en, der Besitz von Din­gen füh­re zum Glück. Die Pro­phe­ten appel­lie­ren an die Men­schen, auf­zu­wa­chen und zu erken­nen, dass ihre Ido­le nichts ande­res als das Werk ihrer eige­nen Hän­de, Illu­sio­nen sind. Jesus sagt: „Die Wahr­heit wird euch frei machen!“ (Joh 8,32). Meis­ter Eck­hart hat sei­ne Vor­stel­lung vom Erken­nen oft­mals aus­ge­drückt, so etwa wenn er bezüg­lich der Erkennt­nis Got­tes sagt: „Das Erken­nen legt kei­nen ein­zi­gen Gedan­ken hin­zu, viel­mehr löst es ab und trennt sich ab und läuft vor und berührt Gott, wie er nackt ist, und erfasst ihn ein­zig in sei­nem Sein“ … („Nackt­heit“ und „nackt“ sind bevor­zug­te For­mu­lie­run­gen Meis­ter Eck­harts und sei­nes Zeit­ge­nos­sen, des Ver­fas­sers der Wol­ke des Nicht­wis­sens.) Nach Marx gilt: „Die For­de­rung, die Illu­sio­nen über sei­nen Zustand auf­zu­ge­ben, ist die For­de­rung, einen Zustand auf­zu­ge­ben, der der Illu­sio­nen bedarf“ (K. Marx, 1971, S. 208). Freuds Begriff der „Selbst­er­kennt­nis“ basiert auf der Vor­stel­lung, dass Illu­sio­nen („Ratio­na­li­sie­run­gen“) zer­stört wer­den müs­sen, um der unbe­wuss­ten Wirk­lich­keit gewahr zu werden.

All die­sen Den­kern ging es um das Heil des Men­schen, sie alle stell­ten die gesell­schaft­lich aner­kann­ten Denk­sche­ma­ta in Fra­ge. Für sie ist das Ziel des Wis­sens nicht die Gewiss­heit der „abso­lu­ten Wahr­heit“, deren man sicher ist, son­dern der sich selbst bewahr­hei­ten­de Voll­zug der mensch­li­chen Ver­nunft. Für den Wis­sen­den ist Nicht­wis­sen eben­so gut wie Wis­sen, da bei­des Tei­le des Erkennt­nis­pro­zes­ses sind, wenn sich auch die­se Art von Nicht­wis­sen von der Igno­ranz der Denk­fau­len unter­schei­det. Das höchs­te Ziel der Exis­ten­zwei­se des Seins ist tie­fe­res Wis­sen, in der Exis­ten­zwei­se des Habens jedoch mehr Wissen.

Da der Schrei­ber­ling sich nächs­te Woche eine Aus­zeit nimmt, erscheint die nächs­te Fol­ge am Frei­tag, den 12. April.

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