Als nach dem ers­ten Besied­lungs­schub des nord­ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nents durch die Euro­pä­er sich christ­li­che Mis­sio­na­re (meist Jesui­ten) sich auf­mach­ten, den Indi­ge­nen das Evan­ge­li­um zu ver­kün­den und ihnen ein “zivi­li­sier­tes Leben” bei­zu­brin­gen, erleb­ten sie in der Regel eine böse Über­ra­schung: Ihre indi­ge­nen Gesprächs­part­ner waren ihnen nicht nur intel­lek­tu­ell min­des­tens eben­bür­tig, son­dern sie mach­ten sich sogar über die rigi­de euro­päi­sche Gesell­schafts­hier­ar­chie lustig.

Erich Fromm fass­te in sei­nem Buch zusam­men, was in neu­es­ter Zeit der Anthro­po­lo­ge David Gra­eber in “Anfän­ge. Eine neue Geschich­te der Mensch­heit” defi­ni­tiv nach­ge­wie­sen hat:
In den pri­mi­tivs­ten Gesell­schaf­ten, (die, wie wir heu­te wis­sen, ganz und gar nicht “pri­mi­tiv” waren), bei den Jägern und Samm­lern, übt der­je­ni­ge Auto­ri­tät aus, des­sen Kom­pe­tenz für die jewei­li­ge Auf­ga­be all­ge­mein aner­kannt ist. Auf wel­chen Qua­li­tä­ten die­se Kom­pe­tenz beruht, hängt weit­ge­hend von den Umstän­den ab: Im All­ge­mei­nen zäh­len in ers­ter Linie Erfah­rung, Weis­heit, Groß­zü­gig­keit, Geschick­lich­keit, Per­sön­lich­keit und Mut. In vie­len die­ser Stäm­me gibt es kei­ne per­ma­nen­te Auto­ri­tät, son­dern nur eine für den Bedarfs­fall, oder es gibt ver­schie­de­ne Auto­ri­tä­ten für ver­schie­de­ne Anläs­se wie Krieg, reli­giö­se Riten, Streit­schlich­tung. Mit dem Ver­schwin­den oder der Abnah­me der Eigen­schaf­ten, auf wel­chen die Auto­ri­tät beruht, endet die­se.

Genau so funk­tio­nier­ten die indi­ge­nen Gesell­schaf­ten, mit denen die Jesui­ten in Kon­takt kamen, und die­se mel­de­ten ihre Erfah­run­gen kopf­schüt­telnd in Form von Rei­se­be­rich­ten nach Euro­pa. Sie wur­den sofort zu Best­sel­lern und tru­gen so zur Ent­wick­lung des auf­klä­re­ri­schen Gedan­ken­guts bei.

Wor­in lag denn für die euro­päi­schen Lese­rin­nen und Leser die Sensation?
Ganz ein­fach: Sie wur­den zum ers­ten Mal mit Gesell­schaf­ten kon­fron­tiert, in denen es kein rigi­des Macht­ge­fü­ge und ‑gefäl­le gab, son­dern wo Auto­ri­tät und Kom­pe­tenz noch zusammengehörten.

Auto­ri­tät haben — Auto­ri­tät sein: Hier liegt der ent­schei­den­de Unter­schied. Erich Fromm spricht von “irra­tio­na­ler” und “ratio­na­ler” Auto­ri­tät, die sich gegen­sei­tig ausschliessen:
Ratio­na­le Auto­ri­tät för­dert das Wachs­tum des Men­schen, der sich ihr anver­traut, und beruht auf Kom­pe­tenz. Irra­tio­na­le Auto­ri­tät stützt sich auf Macht und dient zur Aus­beu­tung der ihr Unter­wor­fe­nen, — und er fährt weiter:
Auto­ri­tät, die im Sein grün­det, basiert nicht nur auf der Fähig­keit, bestimm­te gesell­schaft­li­che Funk­tio­nen zu erfül­len, son­dern glei­cher­ma­ßen auf der Per­sön­lich­keit eines Men­schen, der ein hohes Maß an Selbst­ver­wirk­li­chung und Inte­gra­ti­on erreicht hat. Ein sol­cher Mensch strahlt Auto­ri­tät aus, ohne dro­hen, bestechen oder Befeh­le ertei­len zu müs­sen; es han­delt sich ein­fach um ein hoch­ent­wi­ckel­tes Indi­vi­du­um, das durch das, was es ist – und nicht nur, was es tut oder sagt – demons­triert, was der Mensch sein kann. Die gro­ßen Meis­ter des Lebens waren sol­che Auto­ri­tä­ten, und in gerin­ge­rer Voll­kom­men­heit sind sie unter Men­schen aller Bil­dungs­gra­de und der ver­schie­dens­ten Kul­tu­ren zu finden.

Dann for­mu­liert Fromm den ent­schei­den­den Satz:
Mit der Ent­ste­hung von Gesell­schaf­ten, die auf hier­ar­chi­scher Ord­nung basie­ren und viel grö­ßer und kom­ple­xer sind als die der Jäger und Samm­ler, wird die Auto­ri­tät auf Grund von Kom­pe­tenz durch die Auto­ri­tät auf Grund von sozia­lem Sta­tus abge­löst. (…)

Ob wir es mit mon­ar­chi­scher Auto­ri­tät zu tun haben, bei der die Lot­te­rie der Gene über die Kom­pe­tenz ent­schei­det, oder mit einem skru­pel­lo­sen Ver­bre­cher, der durch Heim­tü­cke oder Mord zu einer Auto­ri­tät wird, oder, wie so häu­fig in der moder­nen Demo­kra­tie, mit Auto­ri­tä­ten, die auf Grund ihrer pho­to­ge­nen Erschei­nung oder des Gel­des, das sie für ihre Wahl aus­ge­ben kön­nen, gewählt wer­den – in allen die­sen Fäl­len dürf­ten Kom­pe­tenz und Auto­ri­tät in kei­nem oder kaum einem Ver­hält­nis zuein­an­der stehen. (…)

Was immer die Grün­de sind für den Ver­lust der Kom­pe­tenz ver­lei­hen­den Eigen­schaf­ten – es kommt in den meis­ten grö­ße­ren und hier­ar­chisch geglie­der­ten Gesell­schaf­ten zu einem Pro­zess der Ent­frem­dung der Auto­ri­tät. Die rea­le oder fik­ti­ve ursprüng­li­che Kom­pe­tenz geht auf die Uni­form oder den Titel über. Wenn die Auto­ri­tät die rich­ti­ge Uni­form trägt oder mit dem ent­spre­chen­den Titel aus­ge­stat­tet ist, dann erset­zen die­se äuße­ren Zei­chen die rea­le Kom­pe­tenz und die Qua­li­tä­ten, auf denen die­se beruht. Der König — um die­sen Titel als Sym­bol für die­se Art von Auto­ri­tät zu ver­wen­den — kann dumm, heim­tü­ckisch, böse, das heißt völ­lig unge­eig­net sein, eine Auto­ri­tät zu sein, den­noch hat er Auto­ri­tät. Solan­ge er den Titel hat, nimmt man an, dass er auch über die Qua­li­tä­ten ver­fügt, die ihm Kom­pe­tenz ver­lei­hen. Selbst wenn der Kai­ser nackt ist, glaubt jeder, dass er schö­ne Klei­der anhat.

Damit wir das glau­ben, braucht es Mani­pu­la­ti­on. Auch dazu hat uns Fromm eini­ges zu sagen.

Fort­set­zung am Kar­frei­tag, den 29. März

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