Erich Fromm zeigt auf, dass sich der Trend zum “haben wol­len” in unse­rer Gesell­schaft über die Jahr­hun­der­te hin­weg sogar im Sprach­ge­brauch nie­der­ge­schla­gen hat: Wir haben nicht nur ein paar Schu­he oder ein Auto, wir haben auch ein Pro­blem oder eine Idee oder Angst. Über­ra­schend des­halb die Tatsache,
dass es in vie­len Spra­chen kein Wort für „haben“ gibt. Im Hebräi­schen muss „ich habe“ zum Bei­spiel durch die indi­rek­te Form „jesh li“ (es ist mir) aus­ge­drückt wer­den. Tat­säch­lich gibt es mehr Spra­chen, die Besitz in die­ser Wei­se aus­drü­cken, als durch „ich habe“.
Bemer­kens­wert ist, dass in der Ent­wick­lung vie­ler Spra­chen die Kon­struk­ti­on „es ist mir“ spä­ter durch die Kon­struk­ti­on „ich habe“ ersetzt wird, wäh­rend eine umge­kehr­te Ent­wick­lung … nicht fest­zu­stel­len ist. Die­se Tat­sa­che scheint dar­auf hin­zu­deu­ten, dass sich das Wort „haben“ in Zusam­men­hang mit der Ent­ste­hung des Pri­vat­ei­gen­tums ent­wi­ckelt, wäh­rend es nicht in Gesell­schaf­ten mit funk­tio­na­lem Eigen­tum — das heißt, Eigen­tum für den Gebrauch — vorkommt.

Er geht im fol­gen­den den Begrif­fen “haben” und “sein” auf ver­schie­dens­ten Ebe­nen nach.
Mit den Begrif­fen Sein oder Haben mei­ne ich nicht bestimm­te ein­zel­ne Eigen­schaf­ten eines Sub­jekts, wie sie in Fest­stel­lun­gen wie „ich habe ein Auto“, „ich bin weiß“ oder „ich bin glück­lich“ Aus­druck fin­den. Ich mei­ne zwei grund­le­gen­de Exis­ten­zwei­sen, zwei ver­schie­de­ne Arten der Ori­en­tie­rung sich selbst und der Welt gegen­über, zwei ver­schie­de­ne Arten der Cha­rak­ter­struk­tur, deren jewei­li­ge Domi­nanz die Tota­li­tät des­sen bestimmt, was ein Mensch denkt, fühlt und handelt.

Was er damit meint, zeigt er an Bei­spie­len aus dem Alltag:
Stu­die­ren­de mit dem “Haben-Typus” schrei­ben gewis­sen­haft auf, was der Pro­fes­sor ihnen erzählt, damit sie spä­ter die ent­spre­chen­de Prü­fung bestehen.
Aber der Inhalt wird nicht Bestand­teil ihrer eige­nen Gedan­ken­welt, er berei­chert und erwei­tert die­se nicht. Sie pres­sen das, was sie hören, in star­re Gedan­ken­an­samm­lun­gen oder gan­ze Theo­rien, die sie spei­chern. Inhalt der Vor­le­sung und Stu­dent blei­ben ein­an­der fremd, außer dass jeder die­ser Stu­den­ten zum Eigen­tü­mer bestimm­ter, von einem ande­ren getrof­fe­ner Fest­stel­lun­gen gewor­den ist. … Stu­den­ten in der Exis­ten­zwei­se des Habens haben nur ein Ziel: das „Gelern­te“ fest­zu­hal­ten, ent­we­der indem sie es ihrem Gedächt­nis ein­prä­gen oder indem sie ihre Auf­zeich­nun­gen sorg­sam hüten. Sie brau­chen nichts Neu­es zu schaf­fen oder hervorzubringen.
● Stu­die­ren­de des “Sein-Typus” sind voll gegen­wär­tig und hören wirk­lich zu.
Was sie hören, regt ihre eige­nen Denk­pro­zes­se an, neue Fra­gen, neue Ideen, neue Per­spek­ti­ven tau­chen dabei auf. Der Vor­gang des Zuhö­rens ist ein leben­di­ger Pro­zess; der Stu­dent nimmt die Wor­te des Leh­rers auf und wird in der Ant­wort leben­dig. Er hat nicht bloß Wis­sen erwor­ben, das er nach Hau­se tra­gen und aus­wen­dig ler­nen kann. Jeder Stu­dent ist betrof­fen und ver­än­dert wor­den: Jeder ist nach dem Vor­trag ein ande­rer als vorher.

Inter­es­san­te Fra­ge, wie gross die Antei­le des “Haben- oder Sein-Typus” in unse­rem aktu­el­len Schul­ssys­tem sind …

In einer Debat­te iden­ti­fi­zie­ren sich in der Regel die Kon­tra­hen­ten mit ihrer Meinung.
● Es kommt ihnen (dem “Haben-Typus”) dar­auf an, bes­se­re, das heißt tref­fen­de­re Argu­men­te zur Ver­tei­di­gung ihres eige­nen Stand­punk­tes vor­zu­brin­gen. Kei­ner denkt dar­an, sei­ne Mei­nung zu ändern oder erwar­tet, dass der Geg­ner dies tut. Sie fürch­ten sich davor, von ihrer Mei­nung zu las­sen, da die­se zu ihren Besitz­tü­mern zählt und ihre Auf­ga­be somit einen Ver­lust dar­stel­len würde.
● Im Gegen­satz dazu ver­traut der “Sein-Typus” auf sei­ne inne­re Leben­dig­keit und darauf,
dass etwas Neu­es ent­ste­hen wird, wenn er nur den Mut hat, los­zu­las­sen und zu ant­wor­ten. Er wirkt im Gespräch leben­dig, weil er sich selbst nicht durch ängst­li­ches Pochen auf das, was er hat, erstickt. Sei­ne Leben­dig­keit ist anste­ckend, und der ande­re kann dadurch häu­fig sei­ne Ego­zen­trik über­win­den. Die Unter­hal­tung hört auf, ein Aus­tausch von Waren (Infor­ma­ti­on, Wis­sen, Sta­tus) zu sein und wird zu einem Dialog.

Beson­ders inter­es­sant sind die Über­le­gun­gen Fromms, wie sich die bei­den Exis­ten­zwei­sen beim Aus­üben von Auto­ri­tät auswirken.

Dazu mehr in der kom­men­den Fol­ge am Frei­tag, den 22. März

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