“Wissen ist Macht” postulierte der englische Philosoph und Politiker Francis Bacon und bereitete mit seinen bahnbrechenden Ausführungen zur Empirie den Boden für den späteren Aufstieg der Naturwissenschaften, und damit auch für eine Explosion eines bestimmten Wissens, dessen Entwicklung man nur mit dem Begriff “exponentiell” gerecht wird.
Zwei Beispiel gefällig?
- Die Anzahl pro Jahr veröffentlichter Fachartikel wächst seit 200 Jahren jedes Jahr um 3%. — Nanu, was soll daran “exponentiell” sein!?
Schon sind wir wieder in die kleine Falle getappt: Diese 3% beziehen sich natürlich jedes Jahr auf die stetig wachsende Gesamtheit aller Artikel. 2014 belief sich die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen in Fachzeitschriften dank des exponentiellen Zuwachses schon auf 2,5 Millionen. Bei gleichgleibendem Wachstum werden es Ende dieses Jahr 3 Millionen sein, wie eine einfache Taschenrechneroperation aufzeigt. Das bedeutet innerhalb von 6 Jahren die 20-prozentige Zunahme eines Akkumulationsprozesses, der schon 200 Jahre dauert!
- Vor 500 Jahren propagierte Nikolaus Kopernikus das heliozentrische Weltbild. 1785 versuchte William Herschel als erster, Grösse und Form unserer Milchstrasse zu bestimmen. Bis anfangs 2o. Jahrhundert lokalisierten die Forscher unsere Sonne ungefähr in deren Zentrum. 1920 stritten zwei berühmte Astronomen über die Frage, ob es neben unserer Galaxie noch ein paar weitere geben könnte. Vier Jahre später entschied sie Edwin Hubble, als er mit dem Hooker-Teleskop in Kalifornien die tatsächliche Existenz weiterer Galaxien nachweisen konnte. Heute sind wir dank des rasanten technischen Fortschritts bei der schwindelerregenden Zahl von bis zu 200’000’000’000 Galaxien angelangt — wohl verstanden nur im von der Erde aus sichtbaren Teil des Universums!
Und Galaxien enthalten Milliarden Sonnen mit einer unbekannten Zahl von Planeten:
“Man bekommt eine anschauliche Vorstellung von der Größe der Milchstraße mit ihren 100 bis 300 Milliarden Sternen, wenn man sie sich im Maßstab 1:1017 verkleinert als Schneetreiben auf einem Gebiet von 10 km Durchmesser und einer Höhe von etwa 1 km im Mittel vorstellt. Jede Schneeflocke entspricht dabei einem Stern und es gibt etwa drei pro Kubikmeter. Die Sonne hätte in diesem Maßstab einen Durchmesser von etwa 10 nm, wäre also kleiner als ein Virus.” (Wikipedia)
Kommt da vielleicht angesichts solcher Dimensionen wie bei mir auch bei der geneigten Leserin und dem geneigten Leser ein leichtes Schwindelgefühl auf ;-)!?
Christian Stöcker: “Die den Menschen bekannte Grösse des Universums ist in den vergangenen fünfhundert Jahren exponentiell gewachsen, besonders rasant in den letzten hundert. Selbst unser Wissen über den Kosmos erlebt in dieser Zeit des ständig schneller werdenden Umbruchs eine Grosse Beschleunigung. Umgekehrt wurde mit jeder dieser Entdeckungen klarer, wie winzig, abgelegen und im kosmischen Masstab irrelevant unser kleiner, von einem Häuflein denkender Wesen bewohnter Planet ist. Wir gehen mit der gewaltigen Kränkung, die diese monumentale Skalenverschiebung zu unseren Ungunsten mit sich bringt, gesellschaftlich so ähnlich um wie mit unserer eigenen Sterblichkeit:
Wir verdrängen sie. …
Viele der Erkenntnisse über die Welt und uns selbst, die die Wissenschaft uns in den vergangenen hundert bis hundertfünfzig Jahren gebracht hat, sind kränkend, aversiv oder sogar furchteinflössend. Das Nachdenken über die Welt an sich, über unseren Platz in ihr und über Entwicklungen, die wir darin anstossen, ist deshalb oft ein unangenehmer Vorgang: Wenn man sich mit der kosmischen Irrelevanz der Menschheit auseinandersetzt oder mit der Tatsache, dass die Menschheit gerade daran ist, ihren eigenen Lebensraum für sich selbst unbewohnbar zu machen, ist das schmerzlich. Das hat zu einer geradezu institutionalisierten Verdrängung und ständiger Selbstablenkung geführt, die uns im Augenblick, im Zeitalter exponentieller Veränderungen und existenzieller Bedrohungen, mehr als je zuvor im Weg steht.”
Werden wir also von all den exponentiell anwachsenden Erkenntnissen über die Welt und uns selbst schlichtweg einfach überrollt und verlieren die Orientierung?
Ziehen sich vielleicht deshalb viele Leute überfordert und unbewusst in ein “Schneckenhaus des Nicht-Wissen-Wollens” zurück?
Stöcker: “Der Abstand zwischen dem, was die Exponenten auf einem bestimmten Fachgebiet wissen, und dem, was davon als Allgemeinbildung bei Laien ankommt, wächst ständig weiter. Das dürfte teilweise auch die mittlerweile offene Aggression erklären, die “Experten” heute gelegentlich entgegenschlägt.” Ein Gefühl, “das die Vertreter und die Anhänger populistischer Bewegungen überall auf der Welt zu einen scheint: Lasst uns doch in Ruhe mit eurem Fachwissen. Donald Trump, der nie ein Buch in die Hand nimmt, wurde zum ersten Präsidenten dieser Wissensverweigerer.”
Da ist guter Rat teuer … Müssten wir also lebenslang soviel Wissen wie möglich in unsere Köpfe hineinbeigen, damit wir auf der Höhe der heutigen Anforderungen bleiben? Gilt es, unser Schulsystem und unseren aktuellen Bildungskanon radikal zu reformieren?
Eine noch radikalere Frage: Ist immer mehr intellektuelles Wissen auf verschiedensten Fachgebieten eigentlich automatisch mit immer mehr Fortschritt der Menschheit auf kultureller, sozialer und moralischer Ebene gleichzusetzen?
Und was bedeutet die Tatsache, dass wir auf einem Planeten leben, der um eine Sonne kreist, die “kleiner als ein Virus” ist, für unser Selbstwertgefühl als menschliche Spezies?
Diesesn Fragen werden wir noch etwas mehr auf den Grund gehen müssen, und zwar am
Sa, den 28.November