“Wo immer eine vermeintlich moralische und linke Sache zu promoten ist, stehen Kirchenvertreter Schlange wie Groupies an einem Céline-Dion-Konzert.”
So Matthias Matussek in der Überschrift zu seinem Artikel in der WW: Ohne Zweifel eine deftige Watsche für die Hunderte von Kirchgemeinden und christlichen Gruppierungen, die sich hinter die KVI stellten.
Was haben sie denn falsch gemacht und nicht verstanden?
Matussek weiss des Rätsels Lösung: Sie haben — wie kann man nur!! — versucht, die Bergpredigt eines gewissen Jeshua ben Joseph ernst zu nehmen:
“Auch wenn die Bergpredigt kein politisches Programm für den Umbau der Gesellschaft oder des Wirtschaftssystems enthält, gilt es doch, ein christlich-solidarisches Menschenbild, das eine bessere Welt für alle anstrebt, auch politisch zu verteidigen: Gegen von Menschen geschaffenes Unrecht und für eine menschliche Zukunft von Werten geprägt, die das Zusammenleben stärken. … Gefordert ist ein Christentum der Tat, das ganz konkret Zeugnis für das Reich Gottes ablegt: In der prinzipiellen Scheidung von allem Bösen; im sichtbaren Tun der Nächstenliebe, Solidarität mit den Armen, Dienst am Frieden und dem Einsatz für mehr Gerechtigkeit.” (aus der Webseite des Herder-Verlags zum Thema)
Das sieht Matussek als strammer Rechts-Katholik etwas anders: “Die Bergpredigt ist ein sittliches Überbietungsprogramm, eine Gipfelerstürmung, und ihr “moralischer Heroismus” (Albert Schweitzer) hat seither jede Menge Fanatiker beseelt.”
Da dürfte ihm Friedrich Nietzsche wohlwollend auf die Schulter klopfen: “Die Bergpredigt hat zu allen Zeiten gerade unter denen, die sie ernst nahmen, entschiedene Gegner gefunden, die in ihr eine Übersteigerung des Menschenmöglichen, eine Vergiftung wahrer Ethik oder eine Sklavenmoral sahen … Die Vision der Bergpredigt erscheint bei Nietzsche als eine Religion des Ressentiments, als der Neid der Feigen und Untüchtigen, die dem Leben nicht gewachsen sind und sich dann mit der Seligpreisung ihres Versagens und der Beschimpfung der Starken, der Erfolgreichen, der Glücklichen rächen wollen.”
Matussek hat auch gleich ein paar Beispiele solch verirrter Schäfchen zur Hand: “Die Waldenser, die Katharer, die Wiedertäufer und die Befreiungstheologen der wilden sechziger Jahre in Lateinamerika, die mit Bibel und Maschinengewehren die Dikatoren und die feudalen Rinderbarone und die United Fruit Company und Coca-Cola und Esso zum Teufel jagen wollten, sie alle beriefen sich auf den moralischen Heroismus der Bergpredigt.”
Doch — wir dürfen alle aufatmen! — diese Fanatiker konnten sich Gott sei Dank nicht durchsetzen:
- Die Waldenser wurden sofort als Häretiker verdammt und von der Inquisition verfolgt. Ihr Verbrechen: Sie predigten die Armut. Doch sie haben bis heute überlebt.
Am 22. Juni 2015 bat übrigens Papst Franziskus die Waldenser für die erlittenen Verfolgungen um Verzeihung, — für Matussek sicherlich unverzeihlich 😉
- Die Katharer (oder Albigenser) und ihre blühende Kultur wurden von der Katholischen Kirche in Zusammenarbeit mit dem französischen König in einem blutigen Kreuzzug vernichtet.
- Die Wiedertäufer (Anabaptisten) kamen nach der Reformation sowohl von der alten wie der neuen Kirche unter die Räder. Sie hatten die Frecheit, sowohl weltliche wie geistliche Obrigkeiten radikal in Frage zu stellen.
Die in Süd- und Mittelamerika als Reaktion auf die katastrophalen sozialen Missstände entstandene Befreiungstheologie fand und findet bis heute keine Gnade vor der obersten Kirchenhierarchie.
Beim “Maschinengewehr”-Hinweis hat Matussek aber offensichtlich etwas verwechselt:
“Um diesen Einfluss (gemeint: des Befreiungstheologen und Erzbischofs Oscar Romero in El Salvador) ideologisch und militärisch zu bekämpfen, bildeten sich in den USA von der Regierung gestützte Organisationen, die ähnlich wie die Contras in Nicaragua mit den Militärs lateinamerikanischer Diktaturen gegen linksgerichtete Bewegungen und Parteien zusammenarbeiteten, ihnen Waffen lieferten, sie zu deren Gebrauch und zu Foltermethoden ausbildeten … So forderte ein nach der Bischofskonferenz von Puebla 1980 erstelltes Geheimdokument des „Komitees von Santa Fe“ … die psychologische, politische und militärische Bekämpfung der Befreiungstheologie und ihrer Vertreter durch die USA.
Als Auswirkung dieser Kooperation wurden etwa in El Salvador hohe Belohnungen für Morde an der Befreiungstheologie nahestehenden Priestern ausgesetzt, denen 1980 auch Óscar Romero zum Opfer fiel. Im gleichen Jahr wurden die US-amerikanischen Missionarinnen Maura Clarke, Jean Donovan, Ita Ford und Dorothy Kazel, die von Romeros Vorbild inspiriert nach El Salvador gekommen waren, von Soldaten des salvadorianischen Militärs entführt, vergewaltigt und ermordet. Als weitere Folge gilt ein Massaker am 16. November 1989, bei dem die durch das US-Militär gebildete und trainierte militärische Spezialeinheit Bataillon Atlacatl eine Gruppe befreiungstheologisch orientierter Jesuiten, darunter Ignacio Ellacuría, an der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador ermordete.” (Wikipedia)
Jetzt stellt sich aber doch langsam die Frage: Worin besteht denn nach Matussek das wahre Christentum? Auch darauf hat er eine klare Antwort, die wir im dritten und letzten Teil unter die Lupe nehmen.
ibis
Dez 8, 2020
Offenbar genügt es nicht, Menschen und Organisationen, die sich für Moral und Gerechtigkeit einsetzen zu kritisieren (und nach einer knapp gewonnenen Abstimmung “nachzutreten”), es muss auch noch gelogen und verdreht werden. (Maschinengewehr).
Merci vilmol für die Einordnung und Richtigstellung!