Das Reich Gottes in uns” — was sollen wir uns denn darunter vorstellen?

Eigentlich ist die Frage schon falsch gestellt, denn es geht bei diesem Reich nicht um irgendwelche Vorstel­lun­gen, Mut­mas­sun­gen und Hypothe­sen. Es geht um das direk­te Erleben, die direk­te Wahrnehmung hin­ter all den men­tal­en und emo­tionalen Fil­tern, die wir im Laufe dieses Lebens — und auch früher­er Leben — in uns aufge­baut haben.

Eines der schön­sten Bilder für dieses Reich ist das Sym­bol der Per­le im “Lied von der Per­le”: Sie ste­ht für den inner­sten, ewigen und unz­er­stör­baren Kern unseres Wesens, ste­ht für unsere eigentliche und wahre Indi­vid­u­al­ität, wie sie von der göt­tlichen Schöpfer­kraft geschaf­fen wurde. Sie ist allerd­ings in der Regel überdeckt von ein­er ganzen Rei­he von Schicht­en in unserem Unter­be­wusst­sein, die man am besten unter dem Begriff des “Ego” zusam­men­fasst. Es ist unsere ure­igen­ste Ver­ant­wor­tung, den Zugang zu dieser Per­le Schritt um Schritt — Leben um Leben — behar­rlich und stetig freizulegen.

Eine solche Aus­sage ste­ht allerd­ings von zwei Seit­en her unter Beschuss:
Mate­ri­al­is­ten wer­den über die Vorstel­lung eines unsterblichen men­schlichen Wesenskerns nur müde lächeln. In einem kalten Uni­ver­sum, in dem Leben rein zufäl­lig ent­stand und der Men­sch ein­sam und ver­lassen nach ein paar Jahren wieder dem grossen Nichts anheim­fällt — wie es zum Beispiel der Biologe und Nobel­preisträger Jacques Mon­od in seinem Buch “Zufall und Notwendigkeit” schildert — , ist diese Vorstel­lung vielle­icht ein tröstlich­es Märchen, aber nichts­destoweniger eine blanke Illusion.
Dog­ma­tis­che Chris­ten — um in unserem west­lichen Kul­turkreis zu bleiben — klam­mern sich an die Vorstel­lung eines “äusseren” Gottes, der auf unser Ver­hal­ten mit “Dau­men hoch” oder “Dau­men runter” reagiert und wie ein Mar­i­onet­ten­spiel­er die Welt­geschicke lenkt. Es ist ins­beson­dere das Welt­bild der vie­len evan­ge­likalen Bewe­gun­gen, die davon träu­men, nach dem grossen “Armagge­don” als brave Schäfchen erret­tet zu werden.

Friedrich Niet­zsche hat dieses Gottes­bild mit sein­er berühmten Aus­sage “Gott ist tot” radikal in Frage gestellt. Noch stärk­er erschüt­tert wurde es nach all den Gräueln des 20. Jahrhun­derts. 1984 hielt Hans Jonas, der grosse jüdis­che deutsch-amerikanis­che Philosoph und Autor des Buch­es “Das Prinzip Ver­ant­wor­tung” anlässlich des Katho­liken­tags im Juli 1984 in München eine Rede mit dem Titel “Der Gottes­be­griff nach Auschwitz”:
Jonas spricht darin vom Verzicht Gottes auf die All­macht. Nicht, weil er nicht gewollt, son­dern weil er nicht gekon­nt habe, habe Gott in Auschwitz nicht einge­grif­f­en. Der Grund dafür liege in der Struk­tur der Schöp­fung. In sein­er All­macht habe Gott aus Liebe die Welt erschaf­fen, aber seit der Schöp­fung sei er nicht mehr allmächtig, teile sozusagen seine Macht mit der Welt.
Dabei bezieht sich Jonas auf die kab­bal­is­tis­che Lehre von der Selb­sten­täußerung und der Selb­stein­schränkung Gottes nach dem Akt der Schöp­fung: „Nach­dem er sich ganz in die wer­dende Welt hineingegeben hat, hat Gott nichts mehr zu geben: Jet­zt ist es am Men­schen, ihm zu geben. (Wikipedia)

Wer diese Aus­sage von Jonas wirk­lich in sich ein­sick­ern lässt, real­isiert, wie rev­o­lu­tionär sie tat­säch­lich ist: Ja, es gibt einen Schöpfer dieses wun­der­vollen und unfass­bar kom­plex­en Uni­ver­sums, in dem wir leben, — und ja, er hat uns die radikale Frei­heit geschenkt, wie wir mit dieser Schöp­fung umge­hen wollen. Es ist an uns allein, in absoluter Selb­stver­ant­wor­tung für unser Leben und für alles Leben auf dieser Erde Sorge zu tragen.

Und genau­so ist es unsere absolute Selb­stver­ant­wor­tung, unser “Ego” Schritt um Schritt bewusst abzubauen und zu durch­licht­en, damit die Kräfte, die in unser­er göt­tlichen Indi­vid­u­al­ität wohnen, freigelegt und zum Wohle allen Lebens, der Men­schheit und der Natur einge­set­zt wer­den kön­nen. C.G. Jung bezog sich auf diese entschei­dend wichtige innere Arbeit, als er vom Weg der Indi­vid­u­a­tion sprach.

Wenn eines Tages Mil­lio­nen diesen Weg in voller Selb­stver­ant­wor­tung gehen, wird sich “das Reich Gottes” dann vielle­icht auch langsam im Äusseren manifestieren.

Nur — wie sieht dieser Weg zu einem kreativ­en, selb­stver­ant­wortlichen Leben denn genau aus?

Die schlechte Nachricht: Es gibt dafür kein pfan­nen­fer­tiges Küchen­rezept. Jed­er Men­sch ist auf seinem ure­igen­sten Weg.
Die gute Nachricht: Es gibt heute eine ein­drück­liche Palette von hil­fre­ichen Ange­boten, — und manch­mal lei­der auch nicht so hil­fre­ichen -, um sich auf den Weg zum “Reich Gottes in uns” zu machen.

Dazu mehr in der näch­sten Folge am Fre­itag, den 12. November!

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