Der israe­li­sche His­to­ri­ker Yuval Noah Hara­ri ist mit sei­nen Best­sel­lern “Eine kur­ze Geschich­te der Mensch­heit”, “Homo Deus” und ““21 Lek­tio­nen für das 21. Jahr­hun­dert” welt­weit bekannt gewor­den. Er gehört auch zu jenen His­to­ri­kern, die sich nicht scheu­en, sich in “das poli­ti­sche Tages­ge­schäft” ein­zu­mi­schen und ihre Stim­me für eine gerech­te­re und mensch­li­che­re Gesell­schaft zu erhe­ben. Hier sein Arti­kel vom 18. Okto­ber, der in der israe­li­schen Zei­tung Haa­retz erschie­nen ist:

Israe­lis brau­chen mehr als die vage For­de­rung nach “Ver­nich­tung der Hamas”

In der dun­kels­ten Zeit des Zwei­ten Welt­kriegs ent­war­fen FDR (Fran­k­lin D. Roo­se­velt) und Chur­chill eine Nach­kriegs­zu­kunft. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Regie­rung eine Visi­on des Isra­els prä­sen­tiert, für das Mil­lio­nen von Sol­da­ten und Zivi­lis­ten ihr Leben ris­kie­ren und sogar opfern sollen.

Am 14. August 1941, in einer der dun­kels­ten Pha­sen des Zwei­ten Welt­kriegs, ver­öf­fent­lich­ten Prä­si­dent Fran­k­lin D. Roo­se­velt und Pre­mier­mi­nis­ter Win­s­ton Chur­chill die Atlan­tik-Char­ta. Wäh­rend die Haken­kreuz­flag­ge über dem Eif­fel­turm und der Akro­po­lis weh­te, wäh­rend die Lon­do­ner in Angst vor den Bom­bern der Luft­waf­fe leb­ten und wäh­rend die Nazi-Pan­zer auf Mos­kau zustürm­ten, blick­ten Roo­se­velt und Chur­chill in die Zukunft und ent­war­fen in der Atlan­tik-Char­ta, wie sie sich die Welt nach der Nie­der­la­ge des Natio­nal­so­zia­lis­mus vorstellten.

In der Char­ta wur­de erklärt, dass die sieg­rei­chen Alli­ier­ten ihren Tri­umph nicht dazu nut­zen wür­den, ihr Ter­ri­to­ri­um zu erwei­tern, dass sie das Recht der Natio­nen auf Selbst­be­stim­mung und demo­kra­ti­sche Herr­schaft aner­ken­nen wür­den und dass sie die natio­na­len Gren­zen nur mit Zustim­mung der ört­li­chen Bevöl­ke­rung neu zie­hen wür­den. Die Char­ta rief zu einer ver­stärk­ten welt­wei­ten Zusam­men­ar­beit auf, um das Leben aller Men­schen zu ver­bes­sern und allen Men­schen ein Leben in Frei­heit von Angst, Gewalt und Armut zu ermöglichen.

Die Idea­le der Char­ta wur­den zwar nie voll­stän­dig umge­setzt, aber sie bil­de­ten die Grund­la­ge für eine neue und bes­se­re Welt­ord­nung und erklär­ten Mil­lio­nen von alli­ier­ten Sol­da­ten und Zivi­lis­ten, wofür sie kämpf­ten und war­um sie ihr Leben ris­kier­ten. Die Atlan­tik-Char­ta trug dazu bei, den Weg für den Unter­gang des Impe­ria­lis­mus, für die Gleich­stel­lung von Frau­en, Schwar­zen, Juden, LGBTQ-Per­so­nen und ande­ren Min­der­hei­ten sowie für die Grün­dung des Staa­tes Isra­el zu ebnen.

Im August 1941 spra­chen Roo­se­velt und Chur­chill nicht nur vage von der Not­wen­dig­keit, “den Nazis­mus zu ver­nich­ten”. In ähn­li­cher Wei­se brau­chen die Israe­lis heu­te drin­gend etwas Tie­fe­res und Kon­struk­ti­ve­res als ein vages Ver­spre­chen, “die Hamas zu ver­nich­ten”. Wir brau­chen eine israe­li­sche Char­ta, in der erklärt wird, wie unser Leben nach dem Sieg aus­se­hen wird, und für wel­che posi­ti­ven Zie­le Mil­lio­nen von Sol­da­ten und Zivi­lis­ten ihr Leben ris­kie­ren und sogar opfern müssen.

Die Bewoh­ner von Be’e­ri und Sde­rot, von Kfar Azza und Ofa­kim müs­sen wis­sen, dass die Regie­rung sie nach dem Sieg ver­ei­nen und sich um ihre Sicher­heit küm­mern wird, anstatt Spal­tun­gen zwi­schen ihnen zu schü­ren — und alle im Stich zu las­sen. Nicht­jü­di­sche Bür­ger Isra­els — wie die Fami­li­en von Oberst­leut­nant Alim Saad, der im Kampf an der liba­ne­si­schen Front fiel, Abd al-Rah­man al-Nasa­sa­ra, der von Ter­ro­ris­ten ermor­det wur­de, als er ver­such­te, Über­le­ben­de zu ret­ten, und Awad Daraw­s­he, der beim Fah­ren eines Kran­ken­wa­gens getö­tet wur­de — müs­sen wis­sen, dass sie nach dem Sieg vol­le Gleich­be­rech­ti­gung genie­ßen wer­den. Mil­lio­nen von Frau­en, die dar­um kämp­fen, ihre Fami­li­en, Gemein­schaf­ten und mili­tä­ri­schen Posi­tio­nen zusam­men­zu­hal­ten — wie Rachel Edri, die ihre Fami­lie vor den Ter­ro­ris­ten geret­tet hat, die Grenz­po­li­zis­tin Shif­ra Buch­ris, die Dut­zen­de vor einem Mas­sa­ker bewahrt hat, und Oberst­leut­nant Or Ben Yehu­da, ein Batail­lons­kom­man­deur, der in den letz­ten Tagen sei­ne Män­ner und Frau­en im Kampf ange­führt hat — müs­sen wis­sen, dass sie nach dem Sieg nicht in die Küche zurück­ge­schickt oder hin­ter Schir­men und Schlei­ern ein­ge­schlos­sen wer­den. LGBTQ-Sol­da­ten wie Haupt­mann (a.D.) Sagi Golan, der eine Woche vor der Hoch­zeit mit sei­nem Freund in der Schlacht von Be’e­ri fiel, müs­sen wis­sen, dass ihre Bezie­hun­gen vom Staat voll aner­kannt wer­den und dass sie nach dem Sieg in dem Staat, für den sie ihr Leben ris­kie­ren, offi­zi­ell hei­ra­ten können.

Die Eltern müs­sen wis­sen, dass nach dem Sieg die Schu­len den Kin­dern Wer­te wie Frie­den und Lie­be und nicht nur Krieg und Hass ver­mit­teln wer­den. Jour­na­lis­ten, Mei­nungs­ma­cher, Dich­ter und Den­ker müs­sen wis­sen, dass die Musen nie­mals ver­stum­men wer­den, weder wenn die Kano­nen dröh­nen noch wenn die Kano­nen schwei­gen. Selbst die Paläs­ti­nen­ser im West­jor­dan­land und im Gaza­strei­fen, von denen Isra­el ver­langt, dass sie sich zurück­hal­ten und die Hamas ver­ur­tei­len, müs­sen wis­sen, dass ein sieg­rei­ches Isra­el ihnen nach dem Sieg über die Hamas die Hand zum Frie­den rei­chen und die­sen Sieg nicht aus­nut­zen wird, um sie aus ihrem Land zu ver­trei­ben oder ihre Rech­te mit Füßen zu treten.

Und wenn die­se Regie­rung davon träumt, den Sieg aus­zu­nut­zen, um Gebie­te zu annek­tie­ren, Gren­zen gewalt­sam neu zu zie­hen, Bevöl­ke­run­gen zu ver­trei­ben, Rech­te zu igno­rie­ren, die Rede zu zen­sie­ren, mes­sia­ni­sche Fan­ta­sien zu ver­wirk­li­chen oder Isra­el in eine theo­kra­ti­sche Dik­ta­tur zu ver­wan­deln — dann müs­sen wir das jetzt wis­sen. Sagen Sie uns nicht, dass dies spal­ten­de The­men sind, die war­ten soll­ten, bis der Sieg gesi­chert ist, oder dass jetzt ein­fach kei­ne Zeit ist, über die Zukunft zu spre­chen. Wenn Roo­se­velt und Chur­chill im August 1941 Zeit fan­den, über die fer­ne Zukunft zu spre­chen, kann unse­re Not­stands­re­gie­rung das Glei­che tun. In Isra­el herrscht Einig­keit dar­über, dass die Hamas ent­waff­net wer­den muss, aber was ist mit der Zukunft Isra­els? Netan­ja­hu, Gantz, Eisen­kot und ande­re Regie­rungs­mit­glie­der: Sagen Sie uns sofort, was die lang­fris­ti­gen Zie­le die­ses Krie­ges sind, damit wir wis­sen, was wir ris­kie­ren und wofür wir viel­leicht unser Leben opfern.

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Diese Stimmen gab es in Birsfelden für den Nationalrat

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