Henri Courvoisier “Der Abenteurer aus den Bergen”. Anfang 19. Jhdt. Aus dem Bildkommentar:
“Der in La Chaux-de-Fonds geborene Courvoisier stellte Tell als langhaarigen, bärtigen, barfuss gehenden Abenteurer dar, der Kühnheit und Unstetigkeit zugleich verkörpert. Provokativ schlendert er mit trotzig verschränkten Armen am Hut vorbei. Der Hund im Vordergrund unterstreicht das Demonstrative der Reverenzverweigerung.”
Ricco Labhardt sieht in seinem Essay in Lilly Stunzis Buch Tell abschliessend als eine “aus mythi-schem Urgrund aufsteigende Heldengestalt, in der sich die Sehnsucht des Menschen nach Freisein von Angst, nach innerer Befreiung und Erlösung verkörperte. So begriffen, ist Tell seither Schweizer und Weltbürger zugleich, Patriot und Kosmopolit, im Kern seines Wesens aber für alle Zeiten die Inkarnation des menschlichen Ringens nach Freiheit geworden.”
Mit anderen Worten: In Wilhelm Tell verköpert sich der Archetypus des Kampfes um innere und äussere Freiheit, — eine Freiheit, die zugleich soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde mit einschliesst.
In der Diskussion zu Tell zwischen Christoph Blocher und Thomas Maissen (Tell 22) wird deutlich, dass weder der eine noch der andere das wirklich verstanden haben: Maissen meint, dass Mythen doch keine Grundlage für die Gestaltung der Schweizer Politik sein können und spricht vom Tell-Mythos als “Schweizer Märchen.” Blocher hält dagegen, gerade für die Zukunft seien Mythen von grosser Bedeutung und bezeichnet die Tell-Geschichte als hervorragendes Symbol des Freiheitskampfes.
Maissen hat nicht begriffen, welch tiefen archetypischen Gehalt Märchen haben können. Das hat ein Eugen Drewermann in aller Deutlichkeit herausgearbeitet. Blocher seinerseits braucht den Tell-Mythos als Rechtfertigung für die Abschottung der Schweiz gegenüber einem Europa, das mitten in der Suche nach einer neuen, demokratisch aufgebauten Einheit steht.
Jean-François Bergier, schweizweit bekannt geworden durch den Bergier-Bericht über die nicht immer sehr rühmliche Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg, beendet sein voluminöses Werk “Wilhelm Tell. Realität und Mythos” interessanterweise mit einem Gedicht von Jorge Louis Borges. Borges, einer der Mitbegründer des Magischen Realismus, sieht den Auftrag der Schweiz radikal anders als die SVP:
Mitten in Europa gibt es eine Verschwörung.
Sie datiert von 1291. Es handelt sich um Menschen verschiedener Herkunft, die sich zu unterschiedlichen Religionen bekennen und unterschiedliche Sprachen sprechen.
Sie haben de absonderlichen Beschluss gefasst, vernünftig zu sein.
Sie haben beschlossen, ihre Unterschiede zu vergessen und ihre Gemeinsamkeiten zu betonen.
Sie waren Soldaten der Konföderation und später Söldner, denn sie waren arm und an Krieg gewöhnt und wussten sehr wohl, dass alle Unterfangen des Menschen gleichermassen eitel sind.
Sie waren Winkelried, der die feindlichen Lanzen mit seiner Brust auffängt, damit seine Kameraden vorrücken können.
Sie sind ein Chirurg, ein Hirt oder ein Anwalt, aber sie sind auch Paracelsus und Amiel und Jung und Paul Klee.
Mitten in Europa, in Europas Bergen, wächst ein Turm aus Vernunft und festem Glauben.
Heute sind es zweiundzwanzig Kantone. Der Kanton Genf, der letzte, ist eines meiner Vaterländer.
Morgen werden sie der ganze Planet sein.
Vielleicht ist nicht wahr, was ich sage; möge es prophetisch sein.
Freiheit — soziale Gerechtigkeit — Menschenwürde: Dem Kampf um diese grundlegenden Werte werde ich in den nächsten birsfaelder.li-Folgen anhand von drei konkreten Beispielen nachgehen:
Heiner Koechlin. Er fand in dieser Tell-Serie das eine oder andere Mal Erwähnung. Der Basler Koechlin fühlte sich stark zum anarchistischen Gedankengut hingezogen und blieb gleichzeitig ein frei denkender unabhängiger Geist, der sich jeglichem Schubladedenken entzog.
Leonhard Ragaz. Ragaz kämpfte für ein erneuertes und freies Christentum, das die Augen nicht vor dem sozialen Elend verschloss, das zu seiner Zeit in der Schweiz noch allgegenwärtig war.
Simone Weil. Sie ging als junge Frau im Kampf um Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde unerschütterlich ihren eigenen Weg bis zu ihrem frühen Tod.
Nach Ricco Labhardt verkörpert sich in der Heldengestalt des Tell die Sehnsucht des Menschen nach Freisein von Angst, nach innerer Befreiung und Erlösung. Auch dem Thema des “Helden” wird zwischendurch die eine oder andere birsfaelder.li-Folge gewidmet sein.
An den kommenden Samstagen steht Heiner Koechlin auf dem Programm. Da sein Leben eine intensive Auseinandersetzung mit dem Anarchismus war, eine auch nur kurze Einführung dazu das birsfaelder.li-Format aber sprengen würde, sei hier die ausge-zeichnete ARTE-Dokumentation “Kein Gott, kein Herr!” wärmstens empfohlen, weil sie auf empathische Weise den lichten und dunklen Seiten dieser politischen Strömung nachgeht.
Nächste Folge: Samstag, 30. Mai
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Franz Büchler
Mai 23, 2020
Franca Magnani:
»Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen.«