Vor etwas mehr als drei Jahren stürmte ein Mob von Trump-Anhängern das Kapitol und stürzte die amerikanische Demokratie in eine tiefe Krise. Trump wartete damals mehrere Stunden, bis er sich von seinen Beratern überzeugen liess, sich von diesem versuchten Staatsstreich halbherzig zu distanzieren.
Jene dramatischen Momente sind heute schon halbwegs vergessen, aber es lohnt sich, gerade im Hinblick auf den kommenden Wahlkampf einige Aspekte des verstörenden Auftritts in Erinnerung zu behalten. Zum Beispiel solche Bilder:
Es sind deutliche Hinweise darauf, dass sich gegen Ende der Präsidentschaft Trumps bei einigen seiner Anhänger ein eigentlicher Kult entwickelt hatte: Trump als Erretter aus den Fängen eines diabolischen “Deep State”, Trump als neuer “König Cyrus”, der den Kampf gegen all die Zerstörer der wahren amerikanischen Werte aufnahm und das Christentum gegen all die agnostischen und sozialistischen Saboteure des “wahren Amerika” verteidigte. Das ominöse “Q” machte die Runde.
Auch das könnte aus europäischer Sicht durchaus als nebensächliches Kuriosum abgetan werden, wenn genau dieser Kult nicht jetzt schon — fast ein Jahr vor den Wahlen — schon längst wieder Fahrt aufgenommen hätte:
Willkommen bei der grossen “ReAwaken America” Show von Michael Flynn, die seit 2022 durch die grossen amerikanischen Städte tourt.
Als das rot-weiß-blaue Mikrofon ausgeschaltet wurde, hatten die 3.000 Zuhörer bereits stundenlang Beschimpfungen und Klagen gehört.
“Wir befinden uns im Krieg”, sagte ein Redner. Ein anderer sagte, er würde “eine Kugel für mein Land in Kauf nehmen”, während ein dritter betonte: “Sie hassen euch, weil sie Jesus hassen”. Den Teilnehmern wurde gesagt, dass es jetzt an der Zeit sei, “die ganze Waffenrüstung Gottes anzuziehen”. Dann lud der pensionierte Drei-Sterne-General der Armee, Michael Flynn, der größte Publikumsmagnet der Tour, die Menschen ein, sich taufen zu lassen.
Zahlreiche Menschen verließen das Zelt der Redner und gingen zu drei großen, mit Wasser gefüllten Metallwannen. Während im Hintergrund Lobpreismusik lief, stieg ein Konferenzbesucher nach dem anderen hinein. Die Pastoren ließen sie dann unter die Wasseroberfläche hinab und hießen sie im Namen Jesu Christi in ihrer Bewegung willkommen.
(aus ” Michael Flynn’s ReAwaken Roadshow Recruits ‘Army of God’” von Richard Lardner, Frontline)
Der Drei-Sterne-General Michael Flynn hat sich die Lüge Trumps vom Wahlbetrug Ende 2020 zu eigen gemacht und verbreitet, unter anderem unterstützt von Eric Trump und Roger Stone, unermüdlich seine Botschaft: Wir befinden uns im Endkampf zwischen Gut und Böse. Es geht um nichts weniger als die Existenz der Vereinigten Staaten:
“Gott Vater, wir bitten dich, Präsident Trump die Augen zu öffnen, damit er weiß, wie er deinem göttlichen Willen folgen kann, … im Namen Jesu”, tönte es zum Beispiel von der gigantischen Bühne.
Seit Anfang letzten Jahres (2021) hat die ReAwaken America Tour ihre Botschaft von einem Land im Belagerungszustand zu Zehntausenden von Menschen in 15 Städten und Gemeinden getragen. Die Tour dient als Roadshow und Rekrutierungs-instrument für eine aufstrebende christlich-nationalistische Bewegung, die ein Paket “Gott, Patriotismus und Politik” schnürt und innerhalb der Republikanischen Partei an Macht und Einfluss gewonnen hat.
In der Version von Amerika, die auf der ReAwaken-Tour vorgestellt wird, sollte das Christentum im Zentrum des amerikanischen Lebens und der Institutionen stehen. Stattdessen werde es angegriffen, und die Teilnehmer müssten nun dafür kämpfen, die christlichen Wurzeln der Nation wiederherzustellen. Dies ist eine Botschaft, die bei ReAwaken immer wieder wiederholt wird — eine Botschaft, die das Verfassungsideal einer pluralistischen Demokratie in Frage stellt. Aber es ist eine Botschaft, die sich durchsetzt. (Richard Lardner)
Welche Rolle werden solche Bewegungen im zukünftigen Wahlkampf spielen? Schwer zu sagen, aber angesichts der Abermillionen Evangelikaler, die mithalfen, Trump 2016 an die Macht zu hieven, dürfte ihr Einfluss nicht zu unterschätzen sein. Es ist traurig zu sehen, wie die Botschaft Jeshua ben Joseph’s, dass wir alle — Gläubige und Nichtgläubige, Fromme und Sünder, Juden, Moslems, Christen, Hinduisten, Buddhisten … — Kinder des einen Gottes sind, in den USA offensichtlich in breiten Bevölkerungsschichten gerade daran ist, in einem toxischen Gebräu von Nationalismus, Pseudoreligion und Hass unterzugehen.
Hier geht’s zur Fortsetzung.
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