In den Jahren 1832 und 33 erschienen weit über dreihundert Zeitungsartikel und zehn politische Schriften aus der Feder Troxlers, die alle um das gleiche Thema kreisten: der Kampf um die Erneuerung des veralteten Bundesvertrags von 1815. Um das unglaublich intensive Engagement Troxlers in dieser Frage zu verstehen, müssen wir einen Blick auf den Verlauf dieses Kampfes werfen:
Nachdem der Kanton Thurgau in der Sommertagsatzung von 1831 einen Antrag zur Revision des Bundesvertrags gestellt hatte, beschloss die Tagsatzung im Juli 1832 mit einer knappen Stimmenmehrheit von 13 1/2 Stimmen die Ausarbeitung eines Entwurfs. Bereits im Dezember lag eine “Bundesurkunde der Schweizerischen Eidgenossenschaft” vor.
Doch schon die Wahl des Namens macht das ganze Dilemma dieses Unternehmens deutlich:
Er sollte weder an den bei den Liberalen verhassten Bundesvertrag von 1815 erinnern, noch die Konservativen mit dem Reizwort “Verfassung” herausfordern. Der Inhalt der 120 Artikel lief auf den Versuch hinaus, liberale und konservative Positionen irgendwie unter einen Hut zu bringen, — doch er stiess auf massive Ablehnung und scheiterte kläglich: Die Liberalen kritisierten die zu wenig weitgehende Zentralisation, während die Konservativen den Verlust der kantonalen politischen Selbständigkeit befürchteten.
Als im März 1833 die Tagsatzung einen neuen Anlauf nehmen wollte, standen die Dinge noch schlechter: Die konservativen Kantone des Sarnerbunds (siehe Troxler 16) erschienen gar nicht mehr, und die Vertreter der Heiligen Allianz wollten die Schweizer Neutralität nicht weiter anerkennen, falls die Schweiz es wagen sollte, sich eine neue Verfassung zu geben. Sogar eine militärische Intervention des Auslands schien möglich.
Auch ein weiterer Versuch der Tagsatzung, die Bundesurkunde aufgrund der vielen eingegangenen Anträge und Eingaben zu überarbeiten und die zentralistischen Elemente weiter abzuschwächen, um den Konservativen entgegenzukommen und so die Urkunde doch noch zu retten, schlug fehl. Der Riss, der zwischen liberale und konservative Kantone ging, war nicht zu kitten: Nur eine knappe Mehrheit von 11 Kantonen und zwei Halbkantonen nahm im Mai die revidierte Fassung an.
Jetzt war guter Rat teuer … Ein kleiner Hoffnungsschimmer verblieb allerdings: Ein paar Kantone sahen die Bestätigung der Grossratsbeschlüsse durch eine Volksabstimmung vor. Als das Luzerner Volk dann aber im Juli die Zustimmung der Regierung wuchtig verwarf, war das Projekt der Regenerierung auf gesamtschweizerischer Ebene definitiv tot.
Ignaz Troxler hatte das ganze Drama naturgemäss mit grösstem Interesse verfolgt, schien doch die Weiterentwicklung des Staatenbunds in ein erneuertes Staatsgebilde in greifbare Nähe zu rücken. Allerdings war für ihn das Unternehmen von Beginn an mit einem entscheidenden Makel behaftet: Nicht die Tagsatzung sollte die Revision an die Hand nehmen, sondern ein vom Volk direkt gewählter Verfassungsrat: “Es bedarf das Gesamtvaterland einer Radikalreform, wie sie bereits in den Kantonen stattgefunden, und es muss diese Radikalreform auf dem einzig und allein gesetzlichen Wege eines durch Wahl der Nation aufzustellenden Verfassungsrates geschehen”. Den zweiten Entwurf titulierte er bereits als “Hochverratsakte gegen die Nation wie gegen die Kantone”.
Doch Troxler wäre nicht Troxler gewesen, wenn er nun einfach die Faust im Sack gemacht hätte: 1833 stellte er der Öffentlichkeit seinen bis in die Einzelheiten ausgearbeiteten “Entwurf eines Grundgesetzes für die schweizerische Eidgenossenschaft” vor. Sein Ziel: Die Schaffung eines eidgenössischen Staates in Form eines Bundesstaates auf der Grundlage der Volkssouveränität.
Werfen wir doch einen kleinen Blick auf die ersten drei Artikel seines Grundgesetzes:
Troxler sah also schon 1833 in Anlehnung an die amerikanische Verfassung, dass ein legislatives Zweikammersystem das “Ei des Kolumbus” für einen regenerierten Staat gewesen wäre. Und — wie wir noch sehen werden — hat dieses “Ei des Kolumbus” tatsächlich zum Durchbruch für eine neue Verfassung geführt, — allerdings erst 1848 nach einem blutigen Bürgerkrieg …
In seinem Entwurf war auch vorgesehen: ein einheitliches Schweizer Bürgerrecht, Religionsschutz, Pressefreiheit, Niederlassungsfreiheit, Asylrecht, Handels- und Verkehrsfreiheit, Versammlungsfreiheit und die Zentralisierung des höheren öffentlichen Unterrichts.
Wir fragen uns vielleicht: Was soll daran so revolutionär sein? Die Frage macht deutlich, wie selbstverständlich diese Rechte und Freiheiten heute für uns sind. Sie wurden 1833 ganz im Gegenteil als revolutionär, als radikal, empfunden.
Was das für das Schicksal von Troxlers grossem Wurf bedeutete, werden wir in der nächsten Episode verfolgen!
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