Gerade mal ein halbes Jahr hielt es Simone Weil in New York aus, dann war für sie klar: Zurück nach Europa, wo sich das grosse Drama des Kampfes gegen eine menschenverachtende faschistische Militärwalze abspielte. Frankreich war ihr versperrt, — schon 1941 war sie in Marseille von einem Militärtribunal verhört worden. Es blieb England, wo sie sich der Exil-Regierung von General de Gaulle und Maurice Schumann, “La France Libre / Combattante”, anschliessen wollte.
Im November 1942 traf sie auf einem Frachtschiff in England ein. Dort fand sie im Rahmen der französischen Résistance Arbeit als Redaktorin. Man bat sie, einen Rapport über die aktuelle moralische Lage sowie Vorschläge über eine politische Reorganisation Frankreichs nach dem Krieg zu verfassen. Gleichzeitig entstanden grundlegende Analysen über die “conditio humana”, wie z.B. “L’enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain” (Verwurzelung. Präludium zu einer Erklärung der Pflichten gegenüber dem Menschen). Darüber wird noch zu sprechen sein.
Aber das war ihr zuwenig. Ihre schlimmste Qual: “Der Gedanke an Nöte und Gefahren, an denen ich keinen Anteil habe, erfüllt mich mit einer Mischung aus Entsetzen, Mitleid, Scham und schlechtem Gewissen, die mir jegliche Gedankenfreiheit rauben; erst die Wahrnehmung der Wirklichkeit befreit mich von alldem.” Wie schon im Spanischen Bürgerkrieg wollte sie aktiv am Kampfgeschehen teilnehmen und reaktivierte ihren Plan, sich zusammen mit einer “Fallschirm-Krankenschwester-Brigade” in Frankreich selber an der Résistance zu beteiligen. De Gaulle soll das Projekt mit der Bemerkung “Elle est folle!” vom Tisch gewischt zu haben.
Das Projekt war tatsächlich illusionär, aber vor allem wegen ihrem sich rasch verschlechternden Gesundheitszustand. Am 15. April 1943 wurde sie wegen Tuberkulose in ein Spital und im August in Sanatorium in Ashford eingewiesen, wo sie schon nach einer Woche am 24. August im Alter von 34 Jahren starb.
Für ihren frühzeitigen Tod werden viele, sich zum Teil widersprechende Gründe angeführt. Sie habe sich buchstäblich zu Tode gehungert. Sie sei an einem Herzinfarkt gestorben. Sie habe ihr Zimmer nicht geheizt und auf dem Boden geschlafen, um sich abzuhärten. So habe die Tuberkulose den Sieg davongetragen. Was auch immer zu ihrem Dahinscheiden führte, eines steht fest: Sie hat den Tod nicht gesucht. In all ihren Schriften wandte sie sich scharf gegen den Selbstmord aus Verzweiflung.
Berühmt wurde sie nach dem Kriegsende vor allem dank Albert Camus, der eine Auswahl ihrer hinterlassenen Schriften und Tagebücher publizierte. Seit 1988 erscheint in Frankreich eine textkritische Gesamtausgabe.
Heinz Abosch schreibt in seiner Biografie “Simone Weil. Eine Einführung”: “Als Einzelgängerin eignet sich Simone Weil nicht zum Gruppenidol. Keine Heilige und keine Kultfigur, sich der Tragik ihrer Epoche mit unübertrefflichem Scharfblick bewusst, setzte sie sich mit Problemen auseinander, die im Wesen auch die unseren sind. … Fern und nah zugleich, ist die kämpfende Philosophin, die schmerzlich Denkende, die der historischen Tragik Bewusste unsere Gefährtin. Mit ihren Gedanken sind wir im herausfordernden Dialog — einem Dialog, der nicht zur Ruhe kommt, der ständig neue Fragen stellt und nicht im Quietismus banaler Gewissheiten endet.”
Die nächsten Folgen sind deshalb einer vertieften Auseinandersetzung mit ihren Gedanken gewidmet — in der Hoffnung, dass sie auch uns anregen, sich wacher mit uns selber und den heutigen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Gegebenheiten auseinanderzusetzen.
Hier schon mal als kleines “Hors d’Oeuvre” ein paar ihrer Gedankensplitter:
“Ein Mensch, der sich etwas auf seine Intelligenz einbildet, ist wie ein Sträfling, der mit einer grossen Zelle prahlt”.
“Ich kann, also bin ich”.
“Das Gesetz über den Menschen zu stellen, ist das Wesen der Gotteslästerung”.
“Der Verlust der Berührung mit der Wirklichkeit ist das Böse”.
“Menschen errichten Mauern. Christus sagt: Ich bin die Tür.”
Die nächste Folge wie üblich am kommenden Samstag, den 22. Oktober.