Auch in Marseille, der “zone libre” unter dem antisemitischen Vichy-Regime von Maréchal Pétain, war es Simone Weil wegen des neu erlassenen “statut des Juifs” nicht möglich, ihre Unterrichtstätigkeit wieder aufzunehmen. Dank der Vermittlung durch Pater Perrin fand sie in der Ardèche als Landarbeiterin Unterschlupf bei Gustave Thibon. Tagsüber arbeitete sie bis zur Erschöpfung auf dem Landgut Thibons, nachts führte sie ihre philosophischen und religiösen Studien fort: Sie las das Neue Testament, studierte aber genauso intensiv die griechischen Philosophie und die grossen heiligen Schriften des Hinduismus.
Wie tief sie sich dabei mit den spirituellen Texten auseinandersetzte, zeigt ein Brief an Pater Perrin:
“Als ich im letzten Sommer mit Thibon das Griechische trieb, hatte ich das Vaterunser auf griechisch Wort für Wort mit ihm durchgenommen. Wir hatten uns versprochen, es auswendig zu lernen. Ich glaube, er hat es nicht getan. Auch ich nicht, wenigstens damals nicht. Als ich aber einige Wochen später im Evangelium blätterte, kam es mir in den Sinn, dass ich es, da ich es mir versprochen hatte und es recht sei, auch tun sollte.
Ich tat es. Da hat die unendliche Süsse dieses griechischen Textes mich derart ergriffen, dass ich einige Tage nicht umhin konnte, ihn mir unaufhörlich zu wiederholen. Eine Woche später begann ich mit der Weinlese. Ich sprach das Vaterunser auf griechisch jeden Tag vor der Arbeit, und im Weinberg habe ich es dann noch oftmals wiederholt.
Seitdem habe ich mir als einzige Übung die Verpflichtung auferlegt, es jeden Morgen ein Mal mit unbedingter Aufmerksamkeit zu sprechen. Wenn meine Aufmerksamkeit unter dem Sprechen abirrt oder einschläft, und sei es auch nur im allergeringsten Grade, so fange ich wieder von vorne an, bis ich ein Mal eine völlige und reine Aufmerksamkeit erreicht habe. Dann kommt es wohl mitunter vor, dass ich es aus reinem Vergnügen noch einmal von vorn aufsage, aber nur, wenn das Verlangen mich treibt.
Die Kraft dieser Übung ist ausserordentlich und überrascht mich jedesmal, denn, obgleich ich sie jeden Tag erfahre, übertrifft sie jedes Mal meine Erwartung. Mitunter reissen schon die ersten Worte meinen Geist aus meinem Leibe und versetzen ihn an einen Ort ausserhalb des Raumes, wo es weder eine Perspektive noch einen Blickpunkt gibt. Der Raum tut sich auf. Die Unendlichkeit des gewöhnlichen Raumes unserer Wahrnehmung weicht einer Unendlichkeit zweiten oder manchmal auch dritten Grades.
Gleichzeitig erfüllt diese Unendlichkeit der Unendlichkeit sich allenthalben mit Schweigen, mit einem Schweigen, das nicht die Abwesenheit eines Klanges ist, sondern das der Gegenstand einer positiven Empfindung ist, sehr viel positiver als die eines Klanges.”
Diese Erfahrung der Stille als Quell einer neuen Gotteserfahrung reiht Simone Weil in die mystische Tradition ein: “Ein grosser geistiger Bogen spannt sich von den christlichen Mystikern Johannes Scotus Erigena, Meister Eckhart und Jakob Böhme bis zu Simone Weil. Wenn Meister Eckhart postuliert: “Gott ist ein solcher, dessen Nichts die ganze Welt erfüllt, sein Etwas aber ist Nirgends”, dann ist die Gemeinsamkeit des Denkens offenkundig” (Heinz Abosch)
Abgesehen davon, dass solche Erfahrungen mit Denken nichts zu tun haben, ist es interessant und tragisch zugleich, dass Simone Weil keinen Zugang zu dieser Erfahrung innerhalb der jüdischen Mystik fand, wo Gott als das unfassbare Ain Soph vor aller Schöpfung erscheint. Sie lehnte das Alte Testament pauschal und radikal ab ohne zu erkennen, dass es auch da verborgene Perlen sonder Zahl zu entdecken gab. Dass sie mit ihrer jüdischen Herkunft auf Kriegsfuss stand, zeigt sich auch darin, dass sie sich sogar zur Behauptung verstieg, als “Henker Christi” hätten die Juden, “diese Handvoll von Entwurzelten, alle Entwurzelung auf Erden” hervorgerufen.
In Marseille hatte sie sich 1941 an der Verteilung der Résistance-Zeitschrift “Cahiers du Témoignage chrétien” beteiligt und war von der französischen Polizei mehrfach verhört worden. Im Mai 1942 reiste sie deshalb mit ihren Eltern nach New York aus. Doch das geruhsame Leben fern vom europäischen Drama ging ihr gegen den Strich: Schon im November finden wir sie wieder in England im Dienst der “France Libre” unter General De Gaulle. Darüber mehr am kommenden
Sa, den 17. Oktober.
Kästli
Okt 10, 2020
Wieder ein grosser Lesegenuss ! Danke H.K.Kästl