Aus­schnitt aus dem Titel­bild der Welt­wo­che vom 1. August 2020 von Tho­mas Hirsch­horn, mit Simo­ne Weil-Portrait

“Klei­nes, schma­les Gesicht, fast ver­deckt von Haar und Bril­le. Fein­ge­form­te Nase, schwar­ze, kühn bli­cken­de Augen, ein nach vorn gestreck­ter Hals ver­mit­tel­ten den Ein­druck einer lei­den­schaft­li­chen, fast auf­dring­li­chen Neu­gier, aber der Mund mit den vol­len Lip­pen drück­te Sanft­mut und Güte aus. … es war ein zugleich anmas­sen­des und sanf­tes Ant­litz, küh­nes Befra­gen, aber schüch­ter­nes Lächeln, das sich über die eige­ne Per­son zu belus­ti­gen schien. Waren es nun die dicken Bril­len­glä­ser oder der Ein­druck, stets unter­su­chen, wis­sen, urtei­len zu wol­len? … Ein schmäch­ti­ger Kör­per, leb­haf­te, aber häu­fig unge­schick­te Ges­ten … Dies alles bil­de­te eine eigen­ar­ti­ge Gestalt, die an die revo­lu­tio­nä­re Intel­li­gen­zi­ja erin­ner­te und man­chen Leu­te, aus irgend­ei­nem Grund, bis zur Weiss­glut reiz­te — noch heu­te.” (Simo­ne Pétre­ment, Klas­sen­ka­me­ra­din von Weil am berühm­ten Lycée Hen­ri IV in Paris)

“Schon als reiz­vol­les jun­ges Mäd­chen klei­de­te sie sich  bewusst unele­gant in dem Bestre­ben, ihre Schön­heit zu ver­ber­gen. Ihre stu­den­ti­sche Stan­dard­klei­dung bestand aus fla­chen Schu­hen, Wolls­trümp­fen, einem Kos­tüm, einer Bas­ken­müt­ze, einem gro­ben Man­tel mit wei­ten Taschen vol­ler Zei­tun­gen, deut­lich her­aus­ra­gend die kom­mu­nis­ti­sche L’Hu­ma­ni­té. Ziga­ret­ten rau­chend, woll­te sie es den Män­nern gleich tun: Aus­druck eman­zi­pa­to­ri­scher Bestre­bung, denn es gab nur weni­ge Stu­den­tin­nen, in der Phi­lo­so­phie­klas­se ihres Leh­rers Alain gan­ze vier.” (Heinz Abosch)

Simo­ne Weil — offen­sicht­lich schon in jun­gen Jah­ren eine auf­fal­len­de Erscheinung.

1909 in Paris eine gross­bür­ger­li­che jüdi­sche Fami­lie  gebo­ren, — der Vater war Inter­nist, ihre nach Pogro­men aus Russ­land geflo­he­ne Mut­ter Pia­nis­tin — , erwies sich Simo­ne schon bald als hoch­be­gab­tes, aber auch ste­tig krän­keln­des, schwie­ri­ges und eigen­sin­ni­ges Kind. Sie konn­te mit vier schon lesen und erlang­te mit 16 ihr “bac­ca­lau­réat”. Am Lycée Hen­ri IV war sie die Lieb­lings­schü­le­rin von Emi­le Char­tier (“Alain”), der ein hohes Anse­hen als “mora­li­sche Stim­me” Frank­reichs genoss, und stu­dier­te schliess­lich an der Eli­te­hoch­schu­le “Eco­le nor­ma­le supé­ri­eu­re” Philosophie.

Eine Anek­do­te der Mit­stu­den­tin Simo­ne de Beau­voir macht deut­lich, dass die frisch­ge­ba­cke­ne Phi­lo­so­phin durch­aus nicht beab­sich­tig­te, sich in den sprich­wört­li­chen “phi­lo­so­phi­schen Elfen­bein­turm” zurück­zu­zie­hen. Anläss­lich einer Dis­kus­si­on erklär­te sie “in schnei­den­dem Tone, dass eine ein­zi­ge Sache heu­te auf Erden zäh­le: eine Revo­lu­ti­on, die allen Men­schen zu essen geben wür­de”. Als Beau­voir ent­geg­ne­te, “das Pro­blem bestehe nicht dar­in, Men­schen glück­lich zu machen, son­dern für ihre Exis­tenz einen Sinn zu fin­den”, kon­ter­te Weil schroff: “Man sieht, dass sie noch nie­mals Hun­ger gelit­ten haben”.

Dass dies nicht nur schö­ne Wor­te waren, zeig­te sich, als sie 1931 eine Stel­le als Phi­lo­so­phie­leh­re­rin an einem Mäd­chen­gym­na­si­um in Le Puy antrat, die Hälf­te ihres Gehalts mit den Arbeits­lo­sen in der Stadt teil­te und an Demons­tra­tio­nen für mehr sozia­le Gerech­tig­keit teil­nahm. Poli­zei­ver­hö­re und anony­me Droh­brie­fe waren die Fol­ge, und von der Pres­se erhielt sie prompt das Eti­kett “la vier­ge rouge”. 

Weil durch­schau­te aber die wah­re Natur des Sowjet­kom­mu­nis­mus sehr wohl. Dort sei kein Arbei­ter­staat ent­stan­den, son­dern eine büro­kra­ti­sche Herr­schaft, die dank der Kon­zen­tra­ti­on aller öko­no­mi­schen und poli­ti­schen Mit­tel in ihren Hän­den eine bis­her noch nicht bekann­te Macht besitzt. Im Dezem­ber 1933 ver­mit­tel­te sie dem in Ungna­de gefal­le­nen und geflo­he­nen Mit-Revo­lu­tio­när Lenins Leo Trotz­ki trotz­dem eine Unter­kunft im elter­li­chen Haus  in Paris. Wäh­rend einer hit­zi­gen Dis­kus­si­on sprach sie Trotz­ki auf die von ihm befoh­le­ne Unter­drü­ckung der Revo­lu­ti­on der Matro­sen von Kron­stadt an, die sie vehe­ment ver­ur­teil­te: “Die Unter­drü­ckung der Arbei­ter ist selbst­ver­ständ­lich kei­ne Etap­pe zu Sozia­lis­mus”. Dar­auf Trotz­ki: “Wenn Sie so den­ken, war­um neh­men Sie uns dann auf? Sind Sie denn von der Heils­ar­mee?” — Zwei Denk­wel­ten, die hier auf­ein­an­der trafen …

Um die Lebens­rea­li­tät der Arbei­ter noch bes­ser ken­nen­zu­ler­nen, bean­trag­te Weil 1934 ein unter­richts­frei­es Jahr und arbei­te­te ab Dezem­ber als unge­lern­te Arbei­te­rin in diver­sen Fabri­ken. Sie fand absurd, dass Intel­lek­tu­el­le über die Lage der Arbei­ter theo­re­ti­sier­ten, ohne sie prak­tisch zu ken­nen; dass sie die Arbei­ter füh­ren woll­ten, ohne zu wis­sen, wer die­se waren: “Doch wenn ich dar­an den­ke, dass die gros­sen bol­sche­wis­ti­schen Füh­rer eine freie Arbei­ter­klas­se zu schaf­fen behaup­te­ten und dass wahr­schein­lich kei­ner von ihnen … je einen Fuss in eine Fabrik setz­te und folg­lich nicht die lei­ses­te Ahnung von den wirk­li­chen Bedin­gun­gen hat­te, die Knecht­schaft oder Frei­heit der Arbei­ter bestim­men, dann erscheint mir die Poli­tik als ein übler Witz”.

Also stanz­te sie bei Als­t­hom an einer schwe­ren Pres­se Ble­che im Akkord, betä­tig­te sich bei Renault als Frä­serin und arbei­te­te am Ofen. Aus ihrem Tage­buch: “Sehr müh­sa­me Arbeit. Uner­träg­li­che Hit­ze, die Flam­men zün­geln bis an die Hän­de und Arme … Am ers­ten Abend, gegen 5 Uhr, ver­lie­re ich durch den Schmerz der Brand­wun­den, durch Erschöp­fung und Kopf­schmer­zen, voll­stän­dig die Herr­schaft über mei­ne Bewegungen.”

Die Fabrik­erfah­rung heil­te sie von einer wei­te­ren Illu­si­on. Sie hat­te gehofft, unter den Arbei­tern Soli­da­ri­tät und Brü­der­lich­keit zu ent­de­cken. Statt­des­sen traf sie vor allem auf Abstump­fung und Resi­gna­ti­on: “Meist spie­geln selbst Bezie­hun­gen zwi­schen Arbeits­kol­le­gen die Här­te wie­der, die dort drin­nen alles beherrscht”. Doch es gab auch klei­ne Licht­bli­cke: “Wenn man Gele­gen­heit hat, mit einem Arbei­ter einen Blick aus­zu­tau­schen — im Vor­bei­ge­hen, wenn man ihn um etwas bit­tet oder ihm bei der Arbeit zusieht -, ist sei­ne ers­te Reak­ti­on stehts, zu lächeln … Das ver­hält sich so nur in einer Fabrik.”

Ein wei­te­res Fazit: “Die Revo­lu­ti­on ist unmög­lich, weil die revo­lu­tio­nä­ren Füh­rer unfä­hig sind. Aber sie ist auch nicht wün­schens­wert, weil sie Ver­rä­ter sind. Zu dumm, um den Sieg zu erlan­gen, und wenn sie ihn hät­ten, wür­den sie ihn unter­drü­cken, genau­so wie in Russland.”
— und: “Mensch­li­che Bezie­hun­gen sind für mich nur auf der Grund­la­ge der Gleich­heit denk­bar; sobald mich jemand als Unter­ge­be­ne behan­delt, sind in mei­nen Augen zwi­schen ihm und mir mensch­li­che Bezie­hun­gen aus­ge­schlos­sen; ich behand­le ihn nun­mehr als Vor­ge­set­zen, das heisst, ich erdul­de sei­ne Macht, genau­so wie ich Käl­te und Regen erdul­den würde …
Natür­li­che Ungleich­hei­ten sind vor­han­den. Mei­ner Mei­nung nach ist eine gesell­schaft­li­che Orga­ni­sa­ti­on — vom mora­li­schen Stand­punkt aus betrach­tet — nur inso­fern gut, als sie ihre Ungleich­hei­ten abzu­schwä­chen trach­tet …, und sie ist inso­fern schlecht, als sie die Ungleich­hei­ten ver­schärft, und sie ist schliess­lich schäd­lich, wenn sie unüber­wind­li­che Schran­ken aufrichtet.”

Die Par­al­le­len zu anar­chis­ti­schem Den­ken sind unüber­seh­bar. Es ist des­halb kei­ne all­zu­gros­se Über­ra­schung, wenn wir sie im Juni 1936 zu Beginn des spa­ni­schen Bür­ger­krieg in der Miliz des berühm­ten anar­chis­ti­schen Revo­lu­tio­närs Dur­ru­ti wie­der­fin­den …  Doch dar­über mehr

am kom­men­den Sams­tag, den 26. September!

 

 

 

 

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