“Die Schöp­fung ist ein Akt der Liebe, und sie ist unaufhör­lich. In jedem Augen­blick ist unser Dasein Liebe Gottes zu uns. Gott aber kann nur sich selb­st lieben. Seine Liebe zu uns ist Selb­stliebe durch uns hin­durch.”
So schreibt Simone Weil in “La pesan­teur et la grâce” (Schw­erkraft und Gnade).

Der Begriff “Selb­stliebe” wird manch­mal mit “Narziss­mus” oder “Selb­st­be­zo­gen­heit” ver­wech­selt. Dabei vergessen wir, dass Jeshua ben Joseph expliz­it sagte: “Liebe deinen näch­sten wie dich selb­st”. Diese wahre Selb­stliebe — die Liebe des Selb­st, oder zum Selb­st — grün­det im Bewusst­sein, dass wir alle als “Söhne oder Töchter Gottes” eine gen­uine innere Würde in uns tra­gen, die uns nie­mand nehmen kann. Dem gegenüber ste­ht ein “falsches Ich”, das in sein­er tiefen Unsicher­heit laufend Bestä­ti­gung von aussen braucht und dessen Wün­sche uner­sät­tlich sind. Man nen­nt es gemein­hin “das Ego”. (Ein vor kurzem abgewählter Präsi­dent liefert uns zurzeit ein per­fek­tes Beispiel dafür 😉 …)

Simone Weil erkan­nte durch ihre Beschäf­ti­gung mit dem Hin­duis­mus, dass dessen Begriff der “Maya” sich auf dieses illu­sionäre Ego bezieht: Das Maya des Ego versper­rt den wahren Weg zur Gotte­serken­nt­nis. Sie erkan­nte auch, dass unser Han­deln — abhängig davon, ob es aus dem Ego oder dem Selb­st erwächst -, je eine radikal andere Qual­ität aufweist; und sie real­isierte, dass Lao-Tse in seinem “Tao-Te-King” mit dem berühmten “Nicht-Han­deln” das Han­deln aus dem Selb­st meinte, wo “Gott” durch uns han­delt:

“Das vom Tao­is­mus geforderte Gewähren- und Geschehen­lassen als radikale Keno­sis des Ichs (Auf­gabe des Ego) verbindet Simone Weil mit ihrer The­o­rie der “attente”. …Gefordert wird von ihr ein von allen Inter­essen und aller Ich­be­zo­gen­heit befre­ites Han­deln, das die Gnade der Schöp­fung zum Aus­druck brin­gen kann. … Der Men­sch als geschaf­fenes Wesen ste­ht in einem kon­tinuier­lichen Prozess. Ein­er­seits muss er die sinnlich erfahrbare Wirk­lichkeit als Schein (Maya, Leere) durch­schauen, um die kreatür­liche Erdung und Ver­haf­tung alles Seien­den zu tran­szendieren. Ander­er­seits gibt er ger­ade in diesem Vol­lzug sein­er “Abdankung”  Gott das volle Sein zurück, der in sein­er Schöp­fung abdank­te. Mit andern Worten: Im Verzicht auf das Ich ahmt der Men­sch den Verzicht Gottes inner­halb der Schöp­fung nach. … Der Men­sch in sein­er kreatür­lichen Frei­heit wird Coop­er­a­teur (Mitar­beit­er / Mitschöpfer) Gottes, indem er sich selb­st entwerdet”(Wolf­gang W. Müller)

Wir entschei­den in jedem Moment, ob wir aus der “Ego-Illu­sion” oder aus unserem wahren Selb­st her­aus han­deln wollen. Das ist die grosse und radikale Frei­heit, in die der Men­sch gestellt ist: “Gott ist nicht allmächtig, weil er der Schöpfer ist. Die Schöp­fung ist Abdankung. Aber er ist allmächtig dadurch, dass seine Abdankung frei­willig ist.” (aus “Zeug­nis für das Gute”). Diese Frei­heit ist das grösst­möglich­ste Geschenk des Schöpfers, aber gle­ichzeit­ig die grösst­möglich­ste Her­aus­forderung. Erich Fromm, der grosse Psy­cho­an­a­lytik­er, hat dieses men­schliche Dilem­ma in seinen berühmten Klas­sik­er Die Furcht vor der Frei­heit analysiert.

“Die Frei­heit man­i­festiert sich wed­er in der Bedürfnis­be­friedi­gung noch im Kon­sum oder in einem willkür­lichen Han­deln. Die tat­säch­lich reale Frei­heit beste­ht in der freien Ver­fü­gung über die eige­nen Hand­lungsmöglichkeit­en, die wed­er fremdbes­timmt noch ent­fremdet ver­standen wer­den dür­fen. … Die Arbeit als Ent­frem­dung entwurzelt den Men­schen, er erlei­det die Arbeit pas­siv, nut­z­los und als Aus­beu­tung. Eine “durch­seelte Arbeit” führt den Men­schen zu ein­er wahren Iden­ti­fika­tion .…” (Wolf­gang W. Müller). Simone Weil: “Eine Kul­tur, die aus der Durch­seelung der Arbeit erwüchse, wäre der höch­ste Grad der Ver­wurzelung des Men­schen im Weltall und dem­nach das Gegen­teil des Zus­tandes, in dem wir uns heute befind­en, und der in ein­er beinah gän­zlichen Entwurzelung beste­ht.” — und Wolf­gang W. Müller ergänzt: “Mit dieser Spir­i­tu­al­ität der Arbeit kön­nten Kon­ser­v­a­tive, Kom­mu­nis­ten wie Chris­ten den Weltauf­trag men­schlich­er Arbeit in ein­er demokratis­chen Gesellschaft gemein­sam wahrnehmen.”

Mit dieser Betra­ch­tung schliessen meine Betra­ch­tun­gen über das Leben und Denken ein­er der mutig­sten Frauen des 20. Jahrhun­derts. Es gäbe noch viele andere Aspek­te auszuleucht­en — z.B., was Simone Weil zum The­ma “Schön­heit” und “Ästhetik” zu sagen hat -, aber wer sich inten­siv­er mit ihr auseinan­der­set­zen möchte, find­et heute diverse gute Biografien und Über­set­zun­gen ihrer Werke in deutsch.

Zum Abschluss möchte ich das Wort Gus­tave Thi­bon geben, dem Dichter und Wein­bauern, in dessen Wein­berg sie tiefe spir­ituelle Erfahrun­gen machte : “Der Geist ein­er makel­losen Mys­tik ging von ihr aus; noch niemals ist mir ein Men­sch von ein­er ähn­lichen Ver­trautheit mit den Mys­te­rien des religiösen Lebens begeg­net; niemals ist mir das Wort über­natür­lich so schwellend von Wirk­lichkeit erschienen wie in ihrer Nähe. … Sie kan­nte, sie lebte den verzwei­fungsvollen Abstand zwis­chen “wis­sen” und “von ganz­er Seele wis­sen” und ihr Leben hat­te kein anderes Ziel als die Über­win­dung dieses Abstandes.” Und vielle­icht müsste man ergänzen, dass sie genau­so inten­siv die Ver­wurzelung dieses “Wis­sens” im konkreten Leben anstrebte.

Am kom­menden Sam­stag wen­den wir uns wie angekündigt einem weit­eren “Wan­der­er zwis­chen den Wel­ten” zu. Rein äusser­lich kön­nte der Unter­schied zu Weil nicht gröss­er sein: Er war ein Dandy, verkrachter Banki­er, pas­sion­iert­er Rud­er­er, — aber gle­ichzeit­ig ein erfol­gre­ich­er Schrift­steller und ein uner­müdlich­er Such­er nach ein­er authen­tis­chen Spir­i­tu­al­ität.
Es wird erzählt, dass im 1. Weltkrieg Tausende von deutschen Sol­dat­en seinen ersten Best­seller im Tor­nister hat­ten, um dem Grauen an der West­front etwas zu ent­fliehen. Wer als erste® auf den richti­gen Namen — des Autors oder des Best­sellers — kommt, darf beim Schreiben­den eine gute Flasche Wein abholen 🙂 (Mel­dung an maxfe@sunrise.ch).

Die Grosse Beschleunigung 5 - Factfulness
Wochenrückblick

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