In einem gehei­men Zusatz­pro­to­koll des Hit­ler-Sta­lin-Pakts (resp. Molo­tow-Rib­ben­trop-Pakt)  von 1939 stand, dass die bal­ti­schen Staa­ten im Kriegs­fall an die Sowjets fal­len wür­den. Kurz dar­auf berei­te­te Mos­kau die Anne­xi­on vor.
Ab dem 14. Juni 1941 wur­den Zehn­tau­sen­de Men­schen ver­haf­tet und in Güter­zü­gen nach Sibi­ri­en depor­tiert. Aus den bal­ti­schen Staa­ten wur­den vor allem Frau­en und Kin­der deportiert.
Das wäre die Vor­ge­schich­te zum Buch, das ich hier vor­stel­len möchte:

Vilė, Jur­ga (Text) / Itaga­ki, Lina (Illus­tra­tio­nen)
Sibi­ro Haiku
Eine Gra­phic Novel aus Litauen

Ein Blick zurück:
Litau­en im Juni 1941. Das Land wur­de vor Kur­zem von sowje­ti­schen Trup­pen besetzt. Eines Mor­gens wird Algis und sei­ne Fami­lie unsanft von sowje­ti­schen Sol­da­ten geweckt. Sie haben nur weni­ge Minu­ten Zeit, um zu packen.

Algis nimmt sei­nen Gan­ter Mar­tin unter den Arm und sein Vater drückt ihm einen Eimer Äpfel in die Hand. Dann wer­den sie mit vie­len ande­ren Litau­ern in Eisen­bahn­wag­gons gepfercht, ahnungs­los, wohin die Rei­se gehen wird. Und die­se lan­ge beschwer­li­che Rei­se, tau­sen­de Kilo­me­ter nach Osten, mit all ihren Pro­ble­men, wird ein­drück­lich geschil­dert … bis zur Ankunft in einem Lager in Sibirien.

Die Bedin­gun­gen hier sind unmensch­lich, der Hun­ger gross, die Win­ter bit­ter. Mit Gal­gen­hu­mor und bemer­kens­wer­tem Ideen­reich­tum begeg­net die Lager­ge­mein­schaft ihrem Elend. Algis’ Tan­te schwärmt für Japan und hat es geschafft, ein Buch mit japa­ni­schen Hai­ku ins Lager zu schmug­geln. Es ist nicht zuletzt die­se kar­ge Poe­sie, die die gefan­ge­nen Litau­er nicht ver­zwei­feln lässt. Und um ihr Heim­weh zu lin­dern, grün­den sie auch einen Chor: den Apfel­chor. Apfel­bäu­me wach­sen in Sibi­ri­en zwar nicht, aber das Sin­gen gibt der Hoff­nung Auf­trieb, dass die­ser Alb­traum bald vor­über sein wird.

Die Nach­richt vom Tode des Vaters ist einer der vie­len Tief­punk­te. Aber schliess­lich gib es eine Ver­ein­ba­rung, dass zumin­dest Kin­der nach Litau­en zurück­dür­fen. Und so ent­kom­men Algis und sei­ne Schwes­ter dem Schrecken.

Die Autorin Jur­ga Vilė schil­dert die­se unge­heu­er­li­che Geschich­te aus der kind­li­chen Per­spek­ti­ve von Algis – ihrem eige­nen Vater. Die Illus­tra­to­rin Lina Itaga­ki hat dazu eine ein­zig­ar­ti­ge Bild­welt geschaf­fen, in wel­cher sich Text und Bild zu einem viel­schich­ti­gen und wahr­lich aus­ser­ge­wöhn­li­chen Gesamtkunstwerk­ ver­we­ben. Ergrei­fend und ermu­ti­gend zugleich. In Litau­en wur­de das Werk mit zahl­rei­chen Prei­sen geehrt, nun liegt es bei Bao­bab Books in deut­scher Über­set­zung vor.

Die­ses Buch kann Erwach­se­nen und Jugend­li­chen zei­gen, was geschieht, wenn Men­schen von einer »Sie­ger­macht« depor­tiert wer­den. Zum Bei­spiel, wenn Flüch­ten­de von Mariu­pol nach Russ­land gedrängt werden.
Und das Buch hilft zu ver­ste­hen, war­um die bal­ti­schen Staa­ten die Sank­tio­nen gegen Russ­lands Ener­gie­er­pres­sun­gen kon­se­quen­ter, rigo­ro­ser ange­hen. Sie wis­sen aus ihrer eige­nen Geschich­te, was sie zu ver­lie­ren haben.

Ich emp­feh­le die­ses Buch sehr!

Aber noch wei­te­re Gedan­ken sind hier am Platz:
Was ist die rich­ti­ge Reak­ti­on, was sind die rich­ti­gen Sank­tio­nen gegen das Krieg füh­ren­de Russland?
Wären nicht gera­de die erwähn­ten bal­ti­schen Staa­ten ein Bei­spiel für uns?

Pre­mier­mi­nis­te­rin Ingri­da Simo­ny­te twit­tert: «Litau­en wird kei­nen Kubik­zen­ti­me­ter des gif­ti­gen rus­si­schen Gases mehr kon­su­mie­ren.» Der Gas­hahn wur­de zugedreht.
Den Gas­be­darf sei­ner 2,8 Mil­lio­nen Ein­woh­ner deckt das klei­ne bal­ti­sche Land seit­her voll­um­fäng­lich mit Flüs­sig­gas, das via einen spe­zi­el­len Flüs­sig­gas-Ter­mi­nal im Ost­see­ha­fen der Stadt Kali­pe­da ins Land kommt. Schon 2015 hat­te sich Litau­en zum Bau des Ter­mi­nals ent­schlos­sen, um mit­tel­fris­tig unab­hän­gig zu wer­den von rus­si­schen Gas­lie­fe­run­gen. Das in einer Zeit, in der Deutsch­land noch mit Onkel­chen Schrö­der heiss um Nord­stream 2 gewor­ben hat.

Die est­ni­sche Minis­ter­prä­si­den­tin Kajas Kal­las wur­de in der Sowjet­uni­on gebo­ren. Sie kennt von ihrer Mut­ter genü­gend Schau­er­ge­schich­ten, z.B. wie sie als Baby mit ihrer Mut­ter in einem Vieh­wag­gon nach Sibi­ri­en depor­tiert wurde.
So ist es auch zu ver­ste­hen, wenn die est­ni­sche Minis­ter­prä­si­den­tin Kajas Kal­las alle Ener­gie­im­por­te kappt und Est­land gemes­sen an sei­ner Bevöl­ke­rungs­zahl und Wirt­schafts­kraft die Ukrai­ne unter­stützt wie kein ande­res Land.

Blei­ben wir noch etwas im Nor­den Euro­pas: Die fin­ni­sche Minis­ter­prä­si­den­tin San­na Marin und die schwe­di­sche Minis­ter­prä­si­den­tin Mag­da­le­na Anders­son wol­len ihre Län­der in die NATO führen.

Hmmm. Die­se Frauen …

Hal­lo Schweiz, nicht zu mehr fähig? Wie wäre es mit einem Sprung über den Neutralitätsschatten?


Noch etwas zum Buch Sibi­ro Haiku:
aus dem Litaui­schen von Saskia Dru­de, © 2020 Bao­bab Books, 240 Sei­ten, Klap­pen­bro­schur, Hand­let­te­ring, Fr. 29.—, ISBN 978–3‑907277–03‑4, ab 14 Jah­ren, aber auch Erwach­se­nen sehr zu empfehlen!

Dan­ke dem Ver­lag Bao­bab Books und spe­zi­ell Son­ja Mathe­son für die Bewil­li­gung, einen Ver­lags­text und die Abbil­dun­gen zu benutzen.
Fotos: Franz Büchler

Aus meiner Fotoküche 63
Und tschüss, Marktkommission

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