Die alten Griechen nan­nten die Welt Kos­mos, Schön­heit. So ist die Beschaf­fen­heit aller Dinge, oder so ist die plas­tis­che Kraft des men­schlichen Auges, dass die primären For­men, wie der Him­mel, der Berg, der Baum, das Tier, uns ein Vergnü­gen an und für sich selb­st geben; …
Dies scheint zum Teil dem Auge selb­st zu ver­danken zu sein. Das Auge ist der beste aller Kün­stler. …  Und wie das Auge der beste Kom­pon­ist ist, so ist das Licht der erste der Maler. Es gibt keinen Gegen­stand, der so schmutzig ist, dass inten­sives Licht ihn nicht schön machen würde. …
Selb­st der Leich­nam hat seine eigene Schön­heit. Aber außer dieser all­ge­meinen Anmut, die über die Natur ver­bre­it­et ist, sind fast alle einzel­nen For­men für das Auge angenehm, wie unsere unendlichen Nachah­mungen einiger von ihnen beweisen, wie die Eichel, die Traube, der Kiefern­zapfen, das Weizenohr, das Ei, die Flügel und For­men der meis­ten Vögel, die Löwenkralle, die Schlange, der Schmetter­ling, die Muscheln, die Flam­men, die Wolken, die Knospen, die Blät­ter und die For­men viel­er Bäume, wie die Palme.

So begin­nt Emer­son seinen drit­ten Essay “Schön­heit” in sein­er Essaysamm­lung “Natur”.  Und wenig später schildert er, wie er eine Mor­gendäm­merung und einen Son­nenun­ter­gang erlebt hat:
Ich sehe das Schaus­piel des Mor­gens von der Hügelkuppe gegenüber meinem Haus, von der Mor­gendäm­merung bis zum Son­nenauf­gang, mit Gefühlen, die ein Engel teilen kön­nte. Die lan­gen, schlanken Wolken­balken schwim­men wie Fis­che im Meer des karmin­roten Lichts. Von der Erde aus blicke ich wie ein Ufer in dieses stille Meer hin­aus. Ich scheine an seinen raschen Ver­wand­lun­gen teilzuhaben: Der aktive Zauber erre­icht meinen Staub, und ich dehne mich aus und ver­schwöre mich mit dem Morgenwind. (…)
Nicht min­der her­vor­ra­gend, wenn man von unser­er gerin­geren Empfänglichkeit am Nach­mit­tag absieht, war gestern Abend der Zauber eines Son­nenun­ter­gangs im Jan­u­ar. Die west­lichen Wolken teil­ten und unterteil­ten sich in rosa­far­bene Flock­en, die mit Tönen von unaussprech­lich­er Zartheit mod­uliert waren; und die Luft hat­te so viel Leben und Süße, dass es eine Qual war, in die Tür zu kommen.

Nolens volens drängt sich hier die bekan­nte Xenie Goethes auf:
Wär nicht das Auge sonnenhaft,
die Sonne kön­nt es nie erblicken.
Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
wie kön­nt uns Göt­tlich­es entzücken?

Solche zutief­st berührende Erfahrun­gen der Natur wer­den — wie viele von uns bestäti­gen kön­nen — in dem Moment möglich, wo unser “Gedanken­ra­dio” auf Sendes­tille geht und wir uns in der inneren Stille der Natur gegenüber öff­nen kön­nen. In solchen Momenten erfahren wir, dass sie auf geheimnisvolle Weise auch in uns ist. “Innen” und “aussen” wer­den eins, und Gefüh­le der Dankbarkeit, Har­monie und Getra­gen Wer­den steigen in uns auf.

Aber Emer­son geht noch weit­er: Wir erleben die Schön­heit­en der Natur mit­tels unser­er Augen, und diese sind nicht ein­fach pas­sive, son­dern — in Zusam­me­nar­beit mit dem Gehirn — aktive Mit­gestal­ter der Erfahrung. Und hin­ter den phys­i­ol­o­gis­chen Prozessen ste­ht das Bewusst­sein, sozusagen die “Lein­wand”, auf die alle Sin­neser­fahrun­gen pro­jiziert wer­den. Einige Quan­ten­physik­er pos­tulieren, dass Materie im Grunde eine Illu­sion ist und erst mit­tels einem durch das Bewusst­sein erzeugten Wellenkol­laps entste­ht. Damit wäre die radikale Ver­schränk­theit zwis­chen “aussen” — z.B. ein­er Land­schaft — und “innen” — unser­er sub­jek­tiv­en seel­is­chen Erfahrung — noch ein­sichtiger gewor­den und sie würde erk­lären — um ein Beispiel zu nen­nen -, warum die Gestalt des Baumes “draussen in der Natur” als tiefes Sym­bol zu allen Zeit­en und in den ver­schieden­sten Kul­turkreisen eine wichtige Rolle spielte und noch spielt.

Emer­son hat solche Zusam­men­hänge schon damals intu­itiv erkan­nt, wenn er schreibt: Wenn wir aber den unsicht­baren Schrit­ten des Denkens fol­gen und uns fra­gen: “Woher kommt die Materie? und Wohin?”, dann tauchen viele Wahrheit­en aus den Tiefen des Bewusst­seins auf. Wir ler­nen, dass das Höch­ste der Men­schenseele gegen­wär­tig ist, dass die furcht­bare uni­verselle Essenz, die nicht Weisheit oder Liebe oder Schön­heit oder Macht ist, son­dern alles in einem und jedes ganz, das ist, wofür alle Dinge existieren und wodurch sie sind; dass der Geist erschafft; dass hin­ter der Natur, in der ganzen Natur, der Geist gegen­wär­tig ist; eins und nicht zusam­menge­set­zt, er wirkt nicht von außen, das heißt in Raum und Zeit, auf uns ein, son­dern geistig oder durch uns selbst: 

Daher baut der Geist, das heißt das höch­ste Wesen, die Natur nicht um uns herum auf, son­dern bringt sie durch uns her­vor, wie das Leben des Baumes neue Zweige und Blät­ter durch die Poren des alten her­vor­bringt. Wie eine Pflanze auf der Erde, so ruht der Men­sch im Schoße Gottes; er wird von uner­schöpflichen Quellen genährt und schöpft, wenn er es braucht, uner­schöpfliche Kraft. Wer kann den Möglichkeit­en des Men­schen Gren­zen set­zen? Wenn wir ein­mal die obere Luft einat­men und die absoluten Naturen der Gerechtigkeit und der Wahrheit betra­cht­en dür­fen, erfahren wir, dass der Men­sch Zugang zum gesamten Geist des Schöpfers hat und selb­st der Schöpfer im Endlichen ist.

Un so kommt der grosse Philosoph zu ein­er radikalen — aus mate­ri­al­is­tis­ch­er Sicht allerd­ings absur­den — Schlussfol­gerung: Die Welt existiert also für die Seele, um das Ver­lan­gen nach Schön­heit zu befriedi­gen. Dieses Ele­ment nenne ich einen let­zten Zweck. Es kann kein Grund gefragt oder angegeben wer­den, warum die Seele nach Schön­heit strebt. Die Schön­heit, in ihrem größten und tief­sten Sinn, ist ein Aus­druck für das Universum. 

Gott ist das All-Gerechte. Wahrheit, Güte und Schön­heit sind nur ver­schiedene Gesichter des­sel­ben Alls. Aber die Schön­heit in der Natur ist nicht endgültig. Sie ist der Vor­bote der inneren und ewigen Schön­heit und ist nicht allein ein solides und zufrieden­stel­len­des Gut. Sie muss als ein Teil und noch nicht als der let­zte oder höch­ste Aus­druck der let­zten Ursache der Natur stehen.

In der näch­sten und let­zten Folge zu Ralph Wal­do Emer­son am kom­menden Sam­stag, den 15. Jan­u­ar präsen­tiert der birsfaelder.li-Schreiberling eine kleine und kun­ter­bunte Auswahl von Aus­sagen und Beobach­tun­gen Emer­sons, die ihn beson­ders berührt haben.

Aber auch die fol­gende Serie bleibt indi­rekt mit dem amerikanis­chen Philosophen ver­bun­den: Sie stellt eine markante schweiz­erische Per­sön­lichkeit aus dem 19./20. Jahrhun­dert vor, die zwar im Gegen­satz zu Emer­son ein Mate­ri­al­ist bis auf die Knochen war, aber par­a­dig­ma­tisch für dessen Forderung steht:
Gehe nicht, wohin der Weg führen mag, son­dern dor­thin, wo kein Weg ist, und hin­ter­lasse eine Spur.

An anderen Serien interessiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hein­er Koech­lin / Simone Weil / Gus­tav Meyrink / Nar­rengeschicht­en / Bede Grif­fiths / Graf Cagliostro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­woche und Don­ald Trump / Die Welt­woche und der Kli­mawan­del / Die Welt­woche und der liebe Gott /Lebendi­ge Birs / Aus mein­er Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reich­sidee /Voge­sen / Aus mein­er Bücherk­iste / Ralph Wal­do Emerson

Die Reichsidee 23
Wochenrückblick

Deine Meinung

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.