Wenn sich Leonhard Ragaz an seiner ersten Pfarrerstelle am Heinzenberg trotz seiner eingestandenen Unreife etwas zugute hielt, war es sein jugendlicher Eifer:
Dieser wurde gerade auch dadurch entflammt, daß die Gemeinden lange Zeit geradezu unglaublich vernachlässigt, ja kirchlich ganz demoralisiert worden waren. Und nun wird es für solche, die meine jetzige Einstellung zur Kirche kennen, interessant sein zu erfahren, daß mein Eifer damals gerade auch der Kirche als Kirche galt. Ich hatte eine beinahe hochkirchliche Periode, die durch Kierkegaard erst an der Oberfläche gestört wurde. Das sollte sich später allerdings ändern …
Als Beispiel sei sein Kampf für die “Helighaltung des Sabbats”, des Sonntags, erzählt:
Man demonstrierte in seiner Mißachtung völlig seinen Freisinn, und Leute, die in der Woche am faulsten waren, waren am Sonntag die eifrigsten. Einmal geschah es, als ich auf dem Wiesenpfad von Tschappina her zu der Predigt in Flerden herunterkam, daß mir höhnisch lachend meine Religions- und Konfirmandenschüler mit Rechen und Heutüchern entgegen kamen. Da stieg ich auf die Kanzel und sprach einen Fluch aus über diese Schändung des Sabbats. Und siehe — was mich selbst überraschte — in diesem Sommer gingen einer Familie, die sich darin besonders auszeichnete, zwei der schönsten und wertvollsten Kühe zugrunde. Nach einiger Zeit teilte mir einer meiner Hauptgegner mit, daß die Gemeinde ganz von sich aus ein Sonntagsgesetz mit strengem Verbot der Sonntagsarbeit beschlossen habe.
Zufall? Jugendlicher Leichtsinn? Ein Beispiel für die Macht des Wortes?
Die viele freie Zeit im Sommer erlaubte Ragaz, ausgiebig zu lesen: Theologische Literatur, Romane, Hegel — zu dem er allerdings erst später einen Zugang fand. Entscheidend wurde aber seine erste intensive Beschäftigung mit der Bibel, — woraus viel später sein mehrbändiges Alterswerk “Die Bibel. Eine Deutung” erwachsen sollte.
Die Bibel war mir durch das theologische Studium beinahe zerstört worden. Aber nun zog es mich zu ihr hin. Ich beschloß, sie einmal ganz zu lesen, und zwar nicht nur ohne gelehrten Kommentar, sondern auch ohne jede theologische Brille. So stand ich denn im tiefen Winter um fünf Uhr morgens auf und setzte mich bis zum Frühstück über die Bibel. Ich las sie ganz, von dem «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde» bis zu dem: «Komm, Herr Jesu!» Und sie erschloß sich mir. Nicht ganz, gewiß nicht, aber zum ersten Mal. Sie wurde lebendig. Und es waren unendlich feierliche Augenblicke, wenn gleichzeitig mit dem Aufleuchten des Lichtes aus Gottes Höhen über den Berggipfeln des Danis das Morgenrot aufleuchtete, nach und nach die ganze unermeßliche Schneelandschaft mit seinem Glanze übergoß und es in meiner Seele aufstieg: «Morgenglanz der Ewigkeit, Licht vom unerschaffnen Lichte.»
Das war meine erste entscheidende Begegnung mit der Bibel. Ihr sind dann noch etwa zwei bis drei weiterführende, ebenso entscheidende, gefolgt.
Interessant sein Hinweis auf sein theologisches Studium als Hemmschuh und Barriere für einen direkten und tiefen Zugang zur Bibel! Das erinnert den birsfaelder.li-Schreiberling an Alfons Rosenberg, der als Jude eines Tages auf der Insel Wörth auf ein unter einem Schutthaufen halb verborgenes Neues Testament stiess und bei der Lektüre eine ihn zutiefst erschütternde spirituelle Erfahrung mit Jesus als ein niederzuckendes, auf Erden brennendes Feuer machte. Er beschaffte sich daraufhin theologische Fachliteratur, nur um festzustellen, dass, je mehr er sich darin vergrub, er sich desto mehr von seiner eigenen Erfahrung entfernte. Seine spirituelle Heimat fand er schliesslich im Eranos-Zirkel, in dem u.a. C.G. Jung, Hermann Hesse, Martin Buber, Heinrich Zimmer, Mircea Eliade, Henry Corbin — um nur ein paar bekanntere Namen zu nennen — um eine neue lebendige Spiritualität rangen. (Eine ausführlichere Schilderung der Erfahrung Rosenbergs findet sich hier.)
Dass Ragaz seine Pfarrstelle auf dem Heinzenberg nach drei einhalb Jahren aufgab, hing — wie er eingesteht — mit einem Irrtum zusammen. Er litt offensichtlich immer wieder an hypochondrischen Anwandlungen, sprich: er war überzeugt, dass er wegen einer Herzschwäche nicht älter als 30 werden würde. Mit welch grossen körperlichen Anstrengungen seine Arbeit in den Berggemeinden verbunden war, hat die letzte Folge eindrücklich gezeigt. So beschloss er, in Chur eine Stellung als Religionslehrer am Gymnasium anzunehmen. Den Entscheid sollte er allerdings schon bald bitterlich bereuen.
Dazu mehr in der nächsten Folge am kommenden Samstag, den 17. Dezember.
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