In eini­ger Hin­sicht wur­de die­ses letz­te Bas­ler Semes­ter das beweg­tes­te von allen, mein­te Leon­hard Ragaz im Rück­blick. Das glaubt man ihm sofort, wenn er schil­dert, wie er nach sei­ner Rück­kehr mit Freun­den die etwas ein­ge­schla­fe­ne “Zofin­gia”,  die ältes­te Schwei­zer Stu­den­ten­ver­bin­dung, wie­der wachrüttelte:

In der Zofin­gia war eine arge Sta­gna­ti­on ein­ge­tre­ten. Trotz der Devi­se «patriae», die sie im Schil­de führt, war nament­lich das poli­ti­sche Inter­es­se auf den Null­punkt gesun­ken. (…) Gegen die­se Sta­gna­ti­on lehn­ten wir andern, das heißt eine von Moos­herr (sei­nem bes­ten Freund) und mir geführ­te Oppo­si­ti­on, uns gele­gent­lich auf dras­ti­sche Wei­se auf. Ein­mal krem­pel­ten wir im zwei­ten Akt die Ärmel auf und san­gen das fin­gier­te Revo­lu­ti­ons­lied, in dem die Ver­se vorkamen:
«Drei­ßig Jah­re währt die Knecht­schaft schon, es lebe, es lebe die Revolution. 
» Oder: «Blut muß flie­ßen knüp­pel­dick, es lebe, es lebe die rote Republik. »
Dazu schlu­gen wir mit den Fäus­ten mäch­tig auf den Tisch, daß die Bier­hum­pen durch­ein­an­der roll­ten. Dar­ob töd­li­ches Erschre­cken der kon­ser­va­ti­ven, wohl­erzo­ge­nen und bas­le­risch ängst­li­chen Dal­be­ner (Söh­ne des spe­zi­fi­schen Patri­zi­er­quar­tiers). Sie nah­men den Scherz ernst. Bald mach­ten wir dann auch selbst die Oppo­si­ti­on zum Ernste.
Als ein beson­ders wert­lo­ser Vor­trag über das Petro­le­um «gestie­gen» war, da war die Oppo­si­ti­on nicht zu hal­ten. Wir bean­trag­ten, daß künf­tig nur noch ernst­haf­te und wich­ti­ge The­men dar­an­kom­men dürf­ten, und zwar bis auf wei­te­res gera­de nur sol­che poli­ti­scher Art, wenn auch nicht im Sin­ne einer Par­tei­po­li­tik. (…) Sozu­sa­gen von Stund an begann in der Zofin­gia Basel ein geis­ti­ger Auf­schwung, der sich noch durch eini­ge wei­te­re Semes­ter fort­setz­te und sich sogar noch über den Rah­men die­ser Sek­ti­on hin­aus verbreitete.

Nach dem abge­schlos­se­nen Stu­di­um — Ragaz war noch nicht ein­mal 21! — trat er sei­ne ers­te Pfarr­stel­le auf dem Hein­zen­berg an, wo er meh­re­re klei­ne Gemein­den zu betreu­en hat­te. Der Wirt, in des­sen Wirts­haus er zuerst logie­ren muss­te, emp­fing ihn mit den Wor­ten: “Wir hät­ten hier einen Vieh­arzt nöti­ger als einen Pfar­rer!” Das schreck­te Ragaz nicht: Ich wäre damals getrost in die Höl­le gegan­gen, so voll war ich von Mut und Kamp­fes­lust.

Die­se ers­te Pfarr­stel­le blieb Ragaz in bes­ter Erin­ne­rung: Im Win­ter muss­te er zwar Schul­un­ter­richt, Reli­gi­ons­un­ter­richt und Kon­fir­man­den­un­ter­richt ertei­len, aber im Som­mer genoss er — abge­se­hen vom Pre­digt­dienst — viel Frei­heit, sei­nen Inter­es­sen nach­zu­ge­hen. Sei­ne offe­ne Art und sei­ne Her­kunft schaff­te trotz sei­ner Jugend­lich­keit Ver­trau­en in der Bevölkerung.

Was es damals bedeu­te­te, in abge­le­ge­nen Berg­ge­mein­den Pfar­rer zu sein, kön­nen wir uns heu­te gar nicht mehr vor­stel­len. Es gab ja noch kei­ne Autos. Des­halb hier sein Bericht, wie er mit­ten im Win­ter eine Stell­ver­tre­tung auf der ande­ren Tal­sei­te erlebte:
Ich will ver­su­chen, es durch die Skiz­ze einer sol­chen Pre­digt­fahrt zu cha­rak­te­ri­sie­ren. Und zwar einer im Win­ter, im Janu­ar oder Febru­ar gesche­he­nen. Am Sams­tag wan­de­re ich, selbst­ver­ständ­lich immer zu Fuß, zunächst durch das Dom­leschg, von Dorf zu Dorf, auf einem ver­eis­ten und ver­schnei­ten schlech­ten Fuß­weg (erst viel, viel spä­ter kam das Post­sträß­chen) nach Scheid auf dem Wege nach Fel­dis. (…) . Dort gibt es eine pri­mi­ti­ve aber gast­li­che und freund­li­che Beher­ber­gung. In der eis­kal­ten Kam­mer — es sind minus 16 Grad Réaumur — schläft auf dem klei­nen pri­mi­ti­ven Tep­pich mein Hünd­chen. Die Pre­digt in dem Kirch­lein, das man, wenn man durch die Rhä­zün­ser Schlucht fährt oder läuft, hoch oben in Him­mels­nä­he ragen sieht, fin­det um neun Uhr statt. Aber vor­her noch eine Trau­ung — Braut und Bräu­ti­gam sind Stumme. 

Das Kirch­lein ist natür­lich nicht geheizt, aber es kom­men alle, zum Teil tief aus den wei­ter unten lie­gen­den Höfen her­auf. Und an Auf­merk­sam­keit fehlt es nicht. Am Auf­gang zur Kan­zel aber steht das Wort: «Qui ascen­dit cum timo­ré, is descen­det cum honore»(Wer mit Furcht hin­auf­steigt, der steigt mit Ehre her­un­ter.) . Nach der Pre­digt kommt noch die Tau­fe, und, wenn ich nicht irre, eine kur­ze Kin­der­leh­re. Dann gilt es am Tauf­mahl teil­zu­neh­men. Das ist unver­meid­lich. Eine Absa­ge wäre eine schwe­re Belei­di­gung. Das Mahl ist immer sehr reich­lich. Nach der Gers­ten­sup­pe, in der der Schin­ken gekocht war, — Schin­ken, Ragout («Ver­dempfts») mit Milch­reis, Kas­ta­ni­en und gekoch­ten dür­ren Zwetsch­gen und dazu Kuchen (Pit­ta), «Nid­la» und Kaf­fee. Den Velt­li­ner nicht zu ver­ges­sen! Es bedarf eines guten Magens. Aber auch etwa der Fähig­keit des «als ob!» 

Dann geht es, noch am Vor­mit­tag, wei­ter nach Scheid. Trotz den Fuß­ei­sen fal­le ich auf dem Eise und zer­rei­ße bös mei­ne Bein­klei­der. Der Über­zie­her und der Bünd­ner Pre­digt­man­tel (den ich mit­neh­men muß­te) bede­cken müh­sam die Blö­ße. Nach der Pre­digt in der eis­kal­ten, viel zu gro­ßen und dabei sehr pri­mi­ti­ven Kir­che kommt wie­der die Tau­fe. Und wie­der ein Tauf­mahl. Des­sen Ver­dau­ung kann frei­lich auf dem Wege nach Trans, zur drit­ten Akti­on, geleis­tet wer­den. Denn nun geht es zunächst in ein tie­fes Tobel und dann kirch­turm­s­teil, wie man sagt, im tie­fen Schnee hin­auf nach Trans, dem aller­höchs­ten, auf einer klei­nen Ter­ras­se am Abhang der Stät­zer­horn­ket­te lie­gen­den, inzwi­schen abge­brann­ten drit­ten Dörf­chen der Pfar­rei. Hier ist nun wie­der die gan­ze Bevöl­ke­rung in der Kir­che. Ein Kind schreit die gan­ze Zeit. Wie es nach­her gefragt wird, war­um, ant­wor­tet es: «Der böse Mann hat immer geschimpft.» Was übri­gens nicht der Fall war; es ver­stand natür­lich kein Wort von der deut­schen Predigt.

Inzwi­schen bricht der frü­he Win­ter­abend her­ein. Jetzt gilt es den Abstieg auf einem Wege, der aber­mals mehr dem Bet­te eines Berg­ba­ches gleicht und ver­eist wie ver­schneit ist. Trotz den Fuß­ei­sen geht es nur in Sprün­gen. Dann kommt, in der Däm­me­rung, der immer­hin stun­den­wei­te Weg durch das Dom­leschg nach Thu­sis. Inzwi­schen ist der Mond auf­ge­gan­gen. Die Käl­te ist auf minus 20 bis 25 Reaumur gesun­ken. Ich aber bin nun doch etwas müde. Es fällt mir jedoch nicht ein, in Thu­sis eine Rast zu machen und eine Stär­kung zu nehmen. 

Aber wie ich nun auf­wärts stei­ge, andert­halb Stun­den lang durch den tie­fen Schnee, in der furcht­ba­ren Käl­te, da wird es mir von Zeit zu Zeit zu viel. Das Bedürf­nis, mich in den Schnee zu legen, stellt sich ein. Süße Träu­me von Ruhe und Schlum­mer fan­gen an, mei­ne Sin­nen zu betö­ren. Ihnen nach­zu­ge­ben bedeu­te­te siche­ren Tod. Das weiß ich und bie­te die letz­te Kraft auf. Und doch ist es das Wun­der der Ret­tung, das ich seit­her in ver­wand­ten Lagen noch mehr als ein­mal erlebt habe. Dro­ben erwar­tet mich die Schwes­ter, die ver­ge­bens ver­sucht hat, mit wie­der­hol­tem Ein­hei­zen die Stu­be warm zu machen. Der Tavet­scher Ofen ist sie­dend heiß, die Stu­be bleibt kalt. Neben dem Bet­te aber, in das ich mich tod­mü­de lege, in dem eis­kal­ten Ver­schlag, ist das Was­ser wie­der ein­mal bis auf den letz­ten Trop­fen gefroren.

Neben dem theo­lo­gi­schen Fach­wis­sen war offen­sicht­lich damals eine her­vor­ra­gen­de kör­per­li­che Kon­di­ti­on min­des­tens so wichtig …

Die nächs­te Fol­ge wie immer am kom­men­den Sams­tag, den 10. Dezem­ber.

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