Cyn­thia Bour­ge­ault macht gleich zu Beginn ihres Buches klar: Was wir im Wes­ten land­läu­fig unter “Chris­ten­tum” ver­ste­hen, ist eine Vari­an­te unter vie­len, die sich im Lau­fe der Jahr­hun­der­te entwickelten:
Jesus war ein Ereig­nis aus dem Nahen Osten. (…) Als der “Mete­or” sei­nes Wesens auf die Erde stürz­te, lan­de­te er in Zeit und Raum in Paläs­ti­na, nicht im eliza­be­tha­ni­schen Eng­land. Von Paläs­ti­na aus strahl­te sein Ein­fluss natür­lich in alle Rich­tun­gen aus. Eine Linie kam nach Wes­ten, getra­gen vom Apos­tel Pau­lus durch die Tür­kei und in die grie­chisch-römi­schen Län­der. Das ist die Linie, die uns am bes­ten bekannt ist. Aber die Ener­gie wan­der­te auch in Rich­tun­gen, über die wir viel weni­ger wis­sen. Eine ande­re Linie ver­lief in süd­west­li­cher Rich­tung nach Afri­ka und über­quer­te von dort aus die Stras­se von Gibral­tar und wan­der­te die West­küs­te Frank­reichs hin­auf zu den kel­ti­schen Hoch­bur­gen in der Bre­ta­gne und Irland. Eine wei­te­re Linie strahl­te nach Osten nach Per­si­en, Indi­en und sogar Chi­na aus. Und die Ener­gie bliebt natür­lich auch im Nahen Osten, in Län­dern, die heu­te haupt­säch­lich isla­misch sind: Irak, Syri­en und die Tür­kei. Alle die­se Ener­gie­strö­me, die vom Jesus-Ereig­nis aus­gin­gen, hat­ten ihren eige­nen “Geschmack” — und sie unter­schei­den sich sehr von dem “Geschmack”, den wir von unse­rem eige­nen Strom gewohnt sind.

Für uns umfasst das “christ­li­che Uni­ver­sum” Rich­tun­gen wie Katho­li­ken, Pro­tes­tan­ten (mit ihrem Dut­zend Unter­va­ri­an­ten), Evan­ge­li­ka­le, die grie­chisch- und die rus­sisch-ortho­do­xe Kir­che. Und damit hat es sich.
Aber was ist mit der äthio­pi­schen Kir­che? Den Ori­en­ta­lisch-Ortho­do­xen? Den Nes­to­ria­nern? Den alten Syrern? Den Chris­ten von Mala­bar? Den chi­ne­si­schen Chris­ten von Xian mit ihren ein­deu­tig bud­dhis­tisch gepräg­ten Ver­sio­nen der Leh­ren Jesu? Was wis­sen wir über all die­se ande­ren christ­li­chen Strö­mun­gen, die Ein­fluss hatten?
Sei­en wir ehr­lich: wenig bis nichts …
Auf­grund des star­ren, kon­troll­ori­en­tier­ten Fokus, der in unse­ren west­li­chen Fil­tern ein­ge­baut ist, fällt es uns schwer, die Leben­dig­keit, die Brei­te, die Viel­falt und die Inklu­si­vi­tät des frü­hen Geis­tes zu begrei­fen (und schon gar nicht zu akzeptieren).
Die­ser star­re, kon­troll­ori­en­tier­te Fokus wur­de aller­dings in der Mit­te des 20. Jahr­hun­derts durch meh­re­re Ent­de­ckun­gen auf­ge­bro­chen, — auch wenn das Bewusst­sein dafür in der brei­te­ren Oef­fent­lich­keit noch nicht ange­langt ist. Die Rede ist von Nag Ham­ma­di, Qum­ran und den Syri­schen Stu­di­en.

Die erstaun­lichs­te die­ser Ent­de­ckun­gen sind die Codi­ces von Nag Ham­ma­di, eine wah­re Fund­gru­be früh­christ­li­cher hei­li­ger Schrif­ten, von denen vie­le bis­her unbe­kannt waren oder zwar bekannt waren, aber als für immer ver­lo­ren gal­ten. Die­se unschätz­ba­ren Schrift­rol­len wur­den in den letz­ten Tagen des Zwei­ten Welt­kriegs gefun­den, sorg­fäl­tig auf­be­wahrt in einer gros­sen Urne in einer Höh­le bei Nag Ham­ma­di am obe­ren Nil. In einer gross­ar­ti­gen Geschich­te inter­na­tio­na­ler Intri­gen wur­den sie aus Aegyp­ten her­aus­ge­schmug­gelt, eine Zeit lang in der Manu­skript­samm­lung von Carl Jung auf­be­wahrt und schliess­lich an ein inter­na­tio­na­les Kon­sor­ti­um von Bibel­wis­sen­schaft­lern über­ge­ben, die damit begin­nen konn­ten, sie zu bear­bei­ten und zu bewer­ten. Die Arbei­ten dau­ern bis heu­te an (…)

Die ers­ten Fra­gen waren natür­lich: “Was sind das für Schrif­ten? Wie sind sie dort­hin gekommen?”

Der sich abzeich­nen­de wis­sen­schaft­li­che Kon­sens war, dass sie wahr­schein­lich von einer unbe­kann­ten Mönchs­ge­mein­schaft Ende des vier­ten Jahr­hun­derts, als sich das christ­li­che theo­lo­gi­sche Kli­ma grund­le­gend änder­te, dort auf­be­wahrt wur­den. Die­se Schrif­ten waren einst Teil der hei­li­gen Schrif­ten des Klos­ters gewe­sen — sozu­sa­gen ihre “Bibel” in jenen flies­sen­den frü­hen Jahr­hun­der­ten, bevor der Inhalt des Neu­en Tes­ta­ments fest­ge­schrie­ben wur­de -, aber sie hat­ten sich unter den stren­gen Nor­men der Ortho­do­xie nicht durch­set­zen kön­nen. Im Jahr 367 befahl Bischof Atha­na­si­us von Alex­an­dria den Mön­chen, alle nicht aus­drück­lich als kano­nisch bezeich­ne­ten Schrif­ten zu ver­nich­ten. Die Mön­che wur­den bei die­sem Gedan­ken unru­hig und ver­sie­gel­ten ihre Schät­ze in einer gros­sen Zeit­kap­sel aus Ton, bis eine wei­se­re und güti­ge­re Aera anbrach, in der der Inhalt erneut gewür­digt wer­den konnte.

Die Samm­lung von Nag Ham­ma­di ist ein gewal­ti­ger Fund, sowohl vom Umfang als auch von der Bedeu­tung her. Unter den vie­len wich­ti­gen frü­hen Tex­ten, die hier gefun­den wur­den, ist das Tho­mas-Evan­ge­li­um wahr­schein­lich der bedeu­tends­te, der uns eine völ­lig neue Sicht auf Jesus und die Meta­phy­sik hin­ter sei­nen Leh­ren vermittelt.

Die Schrif­ten aus Nag Ham­ma­di sind heu­te für Inter­es­sier­te dank einer gros­sen Rei­he von Publi­ka­tio­nen zugäng­lich, eben­so wie diver­se Inter­pre­ta­ti­ons­ver­su­che. Für kon­ser­va­ti­ve Chris­ten tra­gen sie aller­dings ein Stig­ma, das des­sen Stu­di­um wenn nicht gar ver­bie­tet, so wenigs­tens für das christ­li­che See­len­heil als höchst gefähr­lich erach­tet. Die­ses Stig­ma lau­tet: Gno­sis. Wenn es für eini­ge der Kir­chen­vä­ter eine mas­si­ve Bedro­hung des wah­ren christ­li­chen Glau­bens gab, dann war das: Gno­sis. An vor­ders­ter Stel­le ist wohl der im 2. Jahr­hun­dert leben­de Ire­nä­us von Lyon zu nennen:
Ire­nä­us ver­fass­te zahl­rei­che Bücher, von denen nur weni­ge erhal­ten sind. Das wich­tigs­te ist die fünf­bän­di­ge Ent­lar­vung und Wider­le­gung der soge­nann­ten Erkennt­nis (Latei­nisch Adver­sus hae­re­ses, „Gegen die Häre­si­en“), unge­fähr 180 n. Chr. veröffentlicht. (…)
Der Zweck von Adver­sus hae­re­ses besteht in der Abgren­zung von gnos­ti­schen und ande­ren Leh­ren und Leh­rern. Sie sol­len als irre­füh­rend erwie­sen wer­den. Das Werk wur­de als eine Gold­mi­ne für die Geschich­te der Gno­sis des 2. Jahr­hun­derts bezeich­net; es blei­be auch nach Ent­de­ckung der Biblio­thek von Nag Ham­ma­di im Jahr 1945 eine der wich­tigs­ten Quel­len für die Kennt­nis des Gno­sis. (aus Wiki­pe­dia)

In einem Arti­kel der Frank­fur­ter Rund­schau heisst es:
Es ist nicht über­ra­schend, dass das Chris­ten­tum bei sei­ner Aus­brei­tung im römi­schen Impe­ri­um auch mit sol­chen gnos­ti­schen Strö­mun­gen in Berüh­rung kam. Vor allem in der ägyp­ti­schen Metro­po­le Alex­an­dria tra­fen die unter­schied­lichs­ten geis­ti­gen Ten­den­zen auf­ein­an­der. Juden, Chris­ten, Neu­pla­to­ni­ker und Gnos­ti­ker begeg­ne­ten sich hier auf engs­tem Raum, strit­ten mit­ein­an­der und beein­fluss­ten sich gegen­sei­tig. So ent­stan­den jene gnos­ti­schen Ver­sio­nen des Chris­ten­tums, die uns in der Biblio­thek von Nag Ham­ma­di begegnen.

Bevor wir uns also mit den Schrif­ten etwas näher aus­ein­an­der­set­zen kön­nen, müs­sen wir die­ses Stig­ma unbe­dingt näher betrach­ten. Was heisst denn “Gno­sis” über­haupt? War­um wur­de sie als eine so gros­se Gefahr für das wer­den­de Chris­ten­tum erach­tet? Oft wird auch von “Gnos­ti­zis­mus” gespro­chen. Bedeu­ten bei­de Begrif­fe das glei­che? Und wenn nein: Wo liegt der Unterschied?

Die­sen Fra­gen wen­den wir uns in der nächs­ten Fol­ge am kom­men­den Sams­tag, den 15. Juli zu. Und weil die­ser gan­ze Fra­gen­kom­plex uns über län­ge­re Zeit beschäf­ti­gen wird, unter­bre­chen wir hier die Serie zu Leon­hard Ragaz und wid­men uns vor­erst dem The­ma unter dem Titel “Chris­ten­tum und Gno­sis”.

An ande­ren Seri­en interessiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hei­ner Koech­lin / Simo­ne Weil / Gus­tav Mey­rink / Nar­ren­ge­schich­ten / Bede Grif­fiths / Graf Cagli­os­tro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­wo­che und Donald Trump / Die Welt­wo­che und der Kli­ma­wan­del / Die Welt­wo­che und der lie­be Gott /Leben­di­ge Birs / Aus mei­ner Foto­kü­che / Die Schweiz in Euro­pa /Die Reichs­idee /Voge­sen Aus mei­ner Bücher­kis­te / Ralph Wal­do Emer­son / Fritz Brup­ba­cher  / A Basic Call to Con­scious­ness / Leon­hard Ragaz

Die Reichsidee 94
Aus meiner Fotoküche 117

Deine Meinung

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.