Warum wir heute nicht ein­fach so “den Schal­ter umle­gen” und uns einem neuen Jesus-Bild zuwen­den kön­nen, hat Ragaz klar­sichtig erkan­nt:
Wir müssen bedenken: fast anderthalb Jahrtausende hat die Zwangsre­li­gion gedauert, darum muss auch die Reak­tion dage­gen Zeit haben und wir darum Geduld mit ihr. Sie ist ein Gesun­dung­sprozess. In diesen vulka­nis­chen Aus­brüchen des Kirchen­has­s­es und schein­baren Reli­gion­shas­s­es, ja Antichris­ten­tums, muss Angst, Zorn, Gift und Fluch, die in der lan­gen Zeit der Muss­re­li­gion sich ange­sam­melt haben, her­aus­geschafft wer­den.

Es gibt, um dies zu illus­tri­eren, kein besseres Beispiel als die Geschichte des Anar­chis­mus in Spanien. 1936 nutzten die Anar­chis­ten in Kat­alonien die Bürg­erkriegssi­t­u­a­tion, um ihre Vision ein­er freien, auf gegen­seit­iger Hil­fe basieren­den Gesellschaft in die Tat umzuset­zen. In kürzester Zeit ent­standen Kom­munen, die auf frei­williger Basis eine egal­itäre Wirtschaft­sor­d­nung etablierten. Die Doku­men­ta­tion “Die Utopie leben” auf Youtube legt davon immer noch ein ein­drück­lich­es Zeug­nis ab.

Es ent­standen Schulen, die das Erbe des grossen spanis­chen Päd­a­gogen Francesco Fer­rer Guardia wieder auf­grif­f­en. Fer­rer hat­te anfangs des 20. Jahrhun­derts eine Schule aufge­baut, die sich gegen das von den Katho­liken streng geführte beste­hende Schul­sys­tem richtete und deren Unter­richt nach anti-autoritären und weltlich-ratio­nalen Prinzip­i­en aufge­baut war. Er wurde 1909 unter falschen Anschuldigun­gen von einem Kriegs­gericht zum Tode verurteilt. Seine Hin­rich­tung löste eine inter­na­tionale Protest­welle aus, an der sich auch George Bernard Shaw, H.G. Wells und Arthur Conan Doyle beteiligten.

Ein Merk­mal des spanis­chen Anar­chis­mus  und der “Fer­rer-Schulen” war ihre strik­te Anti-Reli­giosität gepaart mit ein­er aus­geprägten Kirchen­feind­schaft. Es kam zu unentschuld­baren Ermor­dun­gen von Priestern, Mönchen und Non­nen. Unentschuld­bar — und doch ver­ständlich, weil sich die Kirche über Jahrhun­derte mit den Mächti­gen gegen das Volk ver­bün­det hat­te und eine tra­gende Säule der Dik­tatur Fran­cos war:
Wenn man sagt, dass die katholis­che Kirche mit der Fran­co-Dik­tatur kol­la­bori­erte, so ist das nicht wahr. Die katholis­che Kirche war das Herz des Fran­quis­mo. Sie war der Fran­quis­mo! Der Fran­quis­mo hätte ohne die katholis­che Kirche nicht existieren kön­nen. (aus “Ler­nen aus der Geschichte”)

Man kann sich also ein Bild davon machen, was für ein Jesus-Bild in den Köpfen der Bevölkerung ver­ankert war: Jesus als Fre­und der Mächti­gen, der angesichts der sozialen Ungerechtigkeit auf ein besseres Leben im Jen­seits vertröstete, — allerd­ings nur, sofern man “ein braves Kirchen­schäfchen” war.

Leon­hard Ragaz war aber überzeugt, dass nach diesem lan­gen Gesun­dung­sprozess ein radikaler Neuan­fang möglich würde:
Dann wird eine Zeit kom­men, wo die Men­schen in der Atmo­sphäre vol­lkommen­er Frei­heit sich wieder dem Heili­gen zuwen­den wer­den, wo sie sich freuen wer­den an Gott, weil er ihnen nicht mehr Druck und Qual ist, nicht mehr Belas­tung des Wahrheitssinns und Hem­mung des Denkens, son­dern das Aufat­men der Seele in Höhen­frei­heit …
Der Trieb nach Nega­tion wird sich ersät­tigt haben. Er wird namentlich dann aufhören — ich meine, als Lei­den­schaft und Krankheit aufhören — wenn Reli­gion und vol­lkom­men freies Denken ein­mal endgültig ver­bün­det sind und das Chris­ten­tum seine vor­wärts­gekehrte Hal­tung gefun­den hat, um sie nicht mehr zu ver­lieren. Freies Denken und neue Erken­nt­nis sind dann keine ver­botene Frucht mehr.

Hat sich die Hoff­nung von Leon­hard Ragaz erfüllt?
Die Antwort müsste wohl “Ja und Nein” laut­en.
Nein: Die etablierten Kirchen erleben heute einen Mit­glieder­schwund ohne­gle­ichen. Soge­nan­nte “Freikirchen” meist evan­ge­likaler Prä­gung sind ander­er­seits zwar am Wach­sen, bleiben aber ihrer­seits einem Jesus­bild ver­haftet, das dog­ma­tisch geblieben ist und ein freies Denken auss­chliesst.
Ja: Es gibt dur­chaus Auf­brüche hin zu einem neuen Jesus-Bild. Erwäh­nt seien par­a­dig­ma­tisch Matthew Fox, Richard Rohr, David Steindl-Rast, Beat­rice Bruteau, Andrew Har­vey, Mar­i­anne Williamson, Bede Grif­fiths … Aber das sind erst zarte Pflänzchen, die noch nicht wirk­lich in das Bewusst­sein ein­er weit­eren Öffentlichkeit gedrun­gen sind. Und prak­tisch alle wur­den und wer­den von der etablierten Kirchen­the­olo­gie mit unver­hohlen­em Mis­strauen beäugt …

Wir ver­fol­gen die Gedankengänge von Ragaz weit­er am kom­menden Sam­stag, den 17. Juni.

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