Die Tat­sache der Leug­nung der Exis­tenz Jesu und der Anklang, den sie find­et, ist ein Vor­wurf gegen die Chris­ten­heit; dass Jesus gelebt hat, kann mit solchem Erfolg nur geleugnet wer­den, weil er unter uns nicht lebt … so schreibt Leon­hard Ragaz 1910 in sein­er Artikelserie “Der Kampf um Jesus Chris­tus”. Und er leit­et daraus eine klare Forderung ab:
Wir müssen selb­st mithelfen, dass Jesus lebendig werde. Das Bild des Jesus der Berg­predigt, des Jesus der Armen und Kranken, der “Zöll­ner und Sün­der”, des kämpfend­en Jesus, des Jesus, der gegen Phar­isäer und Priester ste­ht, des Jesus in Geth­se­mane — kurz das Bild des wirk­lichen Men­schen Jesus, in dessen men­schlichem Tun und Wesen Gottes Tun und Wesen uns anschaulich und ver­ständlich wird, muss unver­drossen her­aus­gear­beit­et und gezeigt wer­den. Vor allem aber: Jesus muss unter uns prak­tisch lebendig wer­den. … Jesus muss von den Wolken des Him­mels her­ab­steigen und als Men­sch unter Men­schen gehen, dass er die Sonne der Men­schen­welt werde, die zu leug­nen nie­mand Lust hat; er muss eine ungle­ich mächtigere Real­ität wer­den, als er jet­zt ist. Er muss Gestalt gewin­nen in ein­er Men­schen­welt, die seinen Geist und Willen verkör­pert.

Die Forderung ist da. Aber zwis­chen dem Willen, dieser Forderung von Ragaz nachzukom­men, schieben sich Bilder: Pflicht-Kirchenbe­suche mit lang­weili­gen Predigten am Son­ntag­mor­gen, trau­rige Orgel­musik zu Kirchen­liedern, die man schon lange nicht mehr hören mag. Kon­fir­man­de­nun­ter­richt, den man über sich erge­hen lassen muss, um anschliessend vom “Göt­ti” die erste Uhr geschenkt zu bekom­men …, so wenig­stens die Jugen­derin­nerun­gen des birsfaelder.li-Schreiberlings.

Offen­sichtlich war er mit solchen Erfahrun­gen nicht der einzige, denn Ragaz sieht genau darin den entschei­den­den Stolper­stein für ein lebendi­ges Chris­ten­tum:
Es ist die furcht­bare Belas­tung unseres Wesens durch Unfrei­heit.

Und dann holt er zu ein­er radikalen Kri­tik aus:
Es ist zunächst die Belas­tung durch Angst und Zwang. (Wer ein­mal “Das Chris­ten­tum und die Angst”, das Buch des Zürcher Pfar­rers und Freud-Schüler Oskar Pfis­ter gele­sen hat, find­et darin erschüt­tern­des Anschau­ungs­ma­te­r­i­al). Jed­er­mann weiss, wie es sich damit ver­hält. Aus dem Evan­geli­um Jesu vom Vater, dem Kind, dem Brud­er, von der Frei­heit und der Liebe ist ein Staat­ge­setz gewor­den (das war der Sinn des Dog­mas als solchen), das von ein­er heili­gen Staat­sor­d­nung (der Kirche) gehütet wurde und dessen Übertre­tung zeitlich­es und ewiges Verder­ben bedeutete. Durch Ban­n­flüche, Kerk­er und Scheit­er­haufen, in neueren, weniger robusten Zeit­en durch aller­lei religiösen, moralis­chen, sozialen Druck wurde es den Men­schen auf­genötigt.

Die Kirche legte sich auf eine bes­timmte Form religiös­er Erken­nt­nis fest und betra­chtete jeden Ver­such ein­er Umbil­dung als Frev­el. So wurde neue Erken­nt­nis und freies Denken eine ver­botene Frucht, die die Men­schen erst recht reizte. So sam­melte sich allmäh­lich jen­er Geist der Erbit­terung und Auflehnung gegen das ganze christlich-religiöse Wesen an (…) 

Auch Jesus, die wun­der­barste Gabe Gottes, ist den Men­schen eine Last gewor­den. Das Chris­tus­dog­ma wurde ein Druck für ihr Wahrheits­gewis­sen. Auch was dauernde Wahrheit seines Wesens und Wol­lens ist, kon­nte doch die Herzen nicht in Frei­heit gewin­nen, son­dern wurde den Men­schen aufge­drängt: es wurde ihnen end­los vorgepredigt und schon den Kindern, willi­gen und unwilli­gen, einge­presst. Zugle­ich wurde dieser Jesus zu einem Ver­bün­de­ten alles Unrechts, aller Engigkeit und Geset­zlichkeit gemacht. So ver­ban­den sich mit seinem Namen und Bild aller­lei Vorstel­lun­gen von Unfrei­heit, Klein­lichkeit und Ekel. So wurde er eine Last. Man ist froh, sie abschüt­teln zu dür­fen. 

Das ist aber noch nicht alles, denn  zu der dog­ma­tis­chen, geset­zlichen, kirch­lichen kommt die his­torische Belas­tung. Das Chris­ten­tum war zu ein­er Ver­gan­gen­heit­sre­li­gion gewor­den. Es hat­te den Blick rück­wärts gewen­det; es war fer­tig: fer­tig seine Lehre, seine Offen­barun­gen, fer­tig sein Kul­tus, fer­tig seine Prax­is. … Der Glaube an Jesus nun erscheint ganz beson­ders als Verkör­pe­rung alles Kul­tus der Ver­gan­gen­heit. Jesus scheint dazuste­hen als die Mauer, die alle geistige Vor­wärts­be­we­gung hin­dern will  — darum wird er … als Druck emp­fun­den und seine Besei­t­i­gung als Befreiung. 

Kön­nen wir also jet­zt ein­fach “den Schal­ter umle­gen” und den obi­gen Forderun­gen von Ragaz fro­hge­mut nachkom­men? — So ein­fach ist es lei­der nicht …

Dazu mehr in der näch­sten Folge am kom­menden Sam­stag, den 10. Juni!

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