Das Kapitel in “Mein Weg”, das den Wechsel von Basel nach Zürich schildert, trägt den Titel “Der Kampf mit dem Lärm und der Schwermut” und macht damit deutlich, dass der Anfang am neuen Wirkungsort alles andere als leicht war.
Tatsächlich litt Leonhard Ragaz gewaltig an der Tatsache, dass er — obwohl die Familie die Wohnung mehrfach wechselte — nirgendwo die Stille fand, die er brauchte, um konzentriert seinen Vorbereitungsarbeiten für die Vorlesungen an der Universität Zürich nachzugehen. Seien es russische Flüchtlinge, die in der Pension unter ihnen bis spät in die Nacht lauthals diskutierten, sei es ein angehender Literat, der über ihrer Wohnung stundenlang deklamierte, sei es ein Nachbar, der seine Turnübungen über ihrem Schlafzimmer durchführte, — überall Lärm. Auch in der Gartenhofstrasse, wo die Familie schliesslich eine Bleibe fand, mit einer Fabrik und einer Garage gleich hinter seinen Studierzimmer. Noch schlimmer:
Hier in Außersihl gesellte sich zu den andern Lärmgeistern noch ein ganz besonders plagevoller: das nie aufhörende Teppich‑, Kleider- und Bettenklopfen (es scheint für Zürich typisch zu sein), das für manche Hausfrauen zu einem förmlichen Kult geworden ist, vom Morgen bis zum Abend und vom Montag bis zum Sonntag geht und auch am Sonntag nur durch das polizeiliche Verbot ein wenig in Schranken zu halten ist. Wenn die sittliche Sauberkeit der Zürcher mit dieser durch das Ausklopfen ihrer Sachen bewirkten Schritt hielte, müßte es eine Stadt der Heiligen sein!
Tempi passati … Dazu kam, dass sich Ragaz mit seinen hohen Ansprüchen an sich selbst überforderte und in eine depressive Lebensphase rutschte:
Ich hatte mich darauf kapriziert, alle meine Hauptkollegien zu schreiben. Das diente der Klarheit, war aber eine Riesenarbeit. Denn törichterweise hatte ich mir nicht die Erlaubnis erbeten, mit einem wesentlich geringeren Pensum zu beginnen, und niemand hatte den Verstand, mir das zu raten. So mußte ich sofort mit acht Stunden Kolleg wöchentlich einsetzen. Dieses Schreiben führte natürlich zu einer gewissen Klärung und Vertiefung. Ich habe darüber, wie auch schon im Nachdenken, viel herrliche Stunden schöpferischer Vision erlebt. Aber ich habe dann das Geschriebene doch nicht mehr als einmal oder höchstens zweimal brauchen können. Denn es kam mir daraus schon beim zweiten Mal der Tod entgegen. Ich bin für frische Fische. Alles wird unter meinen Händen zu Glut und dann zu Kohle. (…)
Jenes Schreiben aber hat eine schlimme Wirkung gehabt; es hat eine tiefe Erschöpfung erzeugt, welche den Grund zu einer Schwermut legte, die jahrzehntelang auf mir lastete, ohne daß die Menschen es wußten oder auch nur merkfen. Sie hat mich oft bis an den äußersten Rand gedrängt, ich darf aber erklären, daß es zu Selbstmordgedanken doch nie gekommen ist. Eine schwere Hemmung für vieles ist dieser Zustand freilich lange geblieben, und völlig gehoben hat er sich erst, nachdem ich die Professur aufgegeben.
In Zürich fand sich Ragaz nach seiner Reich Gottes-Erfahrung in Basel mit einer neuen Herausforderung konfrontiert: mit der Frage nach dem Wesen des Jesus von Nazareth und des Christus. Ein Grund dafür war die Auseinandersetzung mit einer theologischen Richtung, welche die geschichtliche Existenz von Jeshua ben Joseph in Frage stellte:
Wie ich zu diesem entscheidenden Fortschritt in meinem Denken gekommen bin, kann ich im einzelnen nicht mehr sagen. … Höchstens das kann ich angeben, daß mir in der Auseinandersetzung mit der modernen Theologie, wie auch mit Drews**, der damals mit seinem « Christusmythus » hausieren ging und auch in Zürich auftrat, immer schärfer die Alternative entgegentrat: Entweder ist in Jesus Christus erschienen, so wie ihn Paulus und Johannes verstehen, oder die ganze Geschichte Jesu und des Christentums, besonders des Urchristentums, löst sich in Nebel auf.
** Der Theologe Arthur Drews veröffentlichte 1909 “Die Christusmythe”. Mit seiner These, hinter der Gestalt Jesu stehe lediglich ein komplexer Mythos, war er nicht der erste und sollte auch nicht der letzte sein, wie diese imponierende Liste in Wikipedia zeigt.
Leonhard Ragaz veröffentlichte darauf in “Neue Wege” die Artikelserie “Der Kampf um Jesus Christus”. In der nächsten Folge werfen wir einen Blick hinein,
- und dies wie immer am kommenden Samstag, den 27. Mai.
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