Die Botschaft vom Neuen Himmel und der Neuen Erde ist die grösste revolutionierende Kraft, die in die Geschichte eingetreten ist: sie ist die Revolution, die tiefste Kraft aller Revolutionen des Abendlandes. Gerade diese umwälzende Unruhe unterscheidet das Christentum, wo es seine echte Art zeigt, von allen sog. Religionen.
Wenn Karl Marx das bekannte Wort gesprochen hat, alle bisherigen Philosophen hätten sich lediglich bemüht, die Welt zu erklären, es komme aber nun darauf an, sie zu verändern, so gilt genau das gleiche von der Botschaft vom Reiche Gottes im Verhältnis zu den anderen Religionen und zu einer bestimmten Art des Christentums. Von dieser Art Christentum freilich gilt … ganz oder teilweise sein anderes berühmtes Wort, das nun der Bolschewismus besonders aufgenommen hat, Religion sei Opium für das Volk (weil sie das Volk einschläfere, über das ihm geschehende Unrecht wegbetrüge), aber vom echten Christusgeist gilt das Gegenteil, er ist die heilige Unruhe der Welt.
Ragaz unterscheidet also deutlich ein Christentum, dessen “Salz der Erde faul geworden ist”, von einer Nachfolge Christi, die sich der Vision des “Reiches Gottes auf Erden” verpflichtet fühlt. So kommt er zu einer radikalen Gegenüberstellung:
Das Christentum ist die Weihe der vorhandenen Welt durch Religion, Christus ist die ewige Revolution der Welt durch Gott.
Der “zerbrochene Ring” zeigt sich darin, dass das Christentum den Neuen Himmel verkündigt, aber die Neue Erde vergessen hat, der Sozialismus aber die Neue Erde verkündigt und den Neuen Himmel vergessen.
Ragaz wirft dem Christentum vor, dass es vergessen habe, die Bruderschaft des Menschen, die gegenseitige Verantwortlichkeit, das Dienen des Starken am Schwachen zu verkünden, — den unendlichen Wert jeder Seele, das heilige Recht Gottes über dem Menschen im politischen und wirtschaftlichen, im sozialen Leben überhaupt.
Etwas wie ein heiliger Egoismus ist auf dem Boden des Christentums als ein Giftbaum gewachsen, dessen Wurzeln ihm die beste Kraft entzogen und dessen Blätter die Atmosphäre verderbten. Im Zusammenhang damit ist ein Pessimismus entstanden, der die Welt für unfähig erklärte, eine Stätte des Reiches Gottes zu werden; zu gross seien die Mächte des Bösen, zu gross die Verderbnis des Menschen durch die Erbsünde. So verlegte man … das Reich Gottes immer mehr in das Jenseits des Grabes.
Das Christentum wurde stark eine Jenseitsreligion (…)
Auf Erden aber hatte man die Kirche und sie trat immer mehr an die Stelle des Reiches Gottes. Die Kirche aber wurde eine vorwiegend konservative Macht. Die revolutionäre Kraft des Reiches Gottes erstarrte in den heiligen Formen dieser Kirche. (…)
Eine ähnliche Erstarrung des ursprünglichen Lebens aber kam zustande …, indem sich der ursprüngliche stürmische Glaube in die Orthodoxie verwandelte.
Und dann beschreibt Ragaz schon 1929 aktuelle kirchliche Stellungnahmen während des heftig geführten Abstimmungskampfes zur Konzerverantwortungsinitiative im Jahre 2020:
Das Christentum, so erklärte und erklärt man immer wieder, hat es nicht mit der Umgestaltung der Welt durch politische und soziale Änderungen, sondern mit der Umgestaltung des einzelnen durch die Busse und Wiedergeburt zu tun. Das Christentum will nicht die äussere, sondern die innere Welt verändern. “Das Reich Gottes ist inwendig in euch”. Das Neue Testament gibt keine Anweisungen für die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern bloss für den Weg der Seele zum Heil.
Ist diese Kritik gerechtfertigt?
Dazu mehr in der nächsten Folge am kommenden Samstag, den 29. April
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