Leonhard Ragaz arbeitete in den letzten Monaten seines Lebens noch intensiv an seiner Autobiographie, die seine Frau, Clara Ragaz-Nadig, dann nach dessen Tod unter dem Titel “Mein Weg” in zwei Bänden herausgab. Sie erlauben einen tiefen Einblick in die menschliche, politische und spirituelle Entwicklung von Ragaz, weil er darin offen über seine äusseren und inneren Kämpfe, über seine Schwächen, seine Erfolge, aber auch sein Versagen spricht.
Ragaz wuchs in Tamins, am Zusammenfluss des Vorder- und Hinterrheins, in einer Bauernfamilie inmitten einer noch fest strukturierten dörflichen Gemeinschaft auf. Robert Lejeune, einer seiner theologischen Schüler, hält fest:
Ragaz war in diesem seinem Heimatboden tief verwurzelt: er wurzelte im eigentlichen Sinne dieses Wortes in der bäuerlichen Dorfgemeinschaft mit ihren durch die Landwirtschaft gegebenen Lebensformen — der junge Leonhard Ragaz galt im Dorf als bester Mähder und als ein besonders zuverlässiger Hirt -, mit ihren auf dem ursprünglichen Gemeinbesitz beruhenden Traditionen und Rechten und mit ihrer lebendigen Demokratie sowie in der weithin noch unberührten Natur der näheren Umgebung von Tamins, wobei das einsame Maiensäss auf Kunkels im Leben des Knaben und jungen Burschen eine besonders wichtige Rolle spielte.
Wie tief sich Ragaz ein Leben lang mit der Natur in den Bergen verbunden fühlte und sie ihm immer wieder Kraft schenkte, zeigt sich an seiner Schilderung anlässlich einer seiner vielen Wanderungen in der Bündner Heimat:
Zweierlei ist mir gerade an dieser Reise besonders charakteristisch geworden. Einmal diese Einsamkeit. Sie habe ich gesucht und tief genossen. Ich habe sie eingeatmet wie heilende Lebensluft für die durch das zu viele Reden erschöpfte Seele. Tagelang und tagelang habe ich kein Wort geredet, es sei denn etwa beim Heimkehren und Übernachten das Allernotwendigste.
Es war wie eine Wiederkehr jener Kindheitstage auf Kunkels. Noch bedeutsamer aber war das andere: das Erleben Gottes in der Natur. Es begleitete mich im Großen und im Kleinen, im Berggipfel und in den Blumen am Wege, im Strahlen der Sonne und im Rauschen des Baches, ohne Unterbrechung. Das Lob Gottes aber quoll ebenso ununterbrochen aus meiner Seele. Das habe ich in diesem Maße und in dieser Fülle nie mehr erlebt, aber es ist ein Grundelement meiner geistigen Existenz geblieben.
An anderer Stelle schreibt er:
Da war einmal das Zusammenleben mit der Natur: mit dem Boden, mit dem Wasser, mit der Luft, mit der Sonne, mit den Sternen, mit den Pflanzen, mit den Tieren, alles in Selbstverständlichkeit, aber mit der tiefsten Innigkeit. Davon ist mir die leidenschaftliche Liebe zur Natur geblieben; sie hat sich im Laufe des Lebens vertieft, aber auch vermehrt. Daraus ist aber auch einer der größten Schmerzen meines Lebens erwachsen: der über die Zerstörung der Natur durch die Technik. … Ich habe das Leben der Alpen in seiner sonnigen Herrlichkeit, aber auch mit seiner Unheimlichkeit und mit seinen Schrecken auf alle Arten miterlebt, bei Tag und Nacht, im Sonnenschein, Nebel, Schnee und Wetterschlag. Sehr, sehr oft geschah das in tiefer Einsamkeit.
War Leonhard Ragaz also schon seit seiner Kindheit religiös geprägt? Er verneint:
Das Religiöse hat in meiner Kindheit keine wesentliche Rolle gespielt, weder von außen noch von innen her. Ich bin, wenn ich so sagen soll, kein religiöses Kind gewesen, geschweige denn ein frommes Kind im üblichen Sinne des Wortes. Von außen kam dafür keine Anregung nennenswerter Art.
In der Familie wurde eine gewisse althergebrachte Gläubigkeit und Kirchlichkeit vorausgesetzt; … Gebetet wurde nicht, wenigstens nicht gemeinsam; das Tischgebet hatte der Vater als altväterisch abgeschafft. Zum Beten angeleitet wurden wir meines Wissens nicht. … Das gemeinsame gelegentliche Singen von Kirchenliedern war das einzige Stück «Gottesdienst», das in unser häusliches Leben trat. Es hatte etwas Erwärmendes. Aber es blieb in der Atmosphäre einer gewissen allgemeinen Ehrfurcht vor dem Heiligen und Unbekannten. Am ehesten trat etwa noch der Glaube an das Jenseits oder an Vorsehung und Gericht deutlich hervor. Aber weder Gott noch Christus waren eine lebendige Wirklichkeit; sie waren es weder für das individuelle Leben, noch für das der Gemeinde. (…)
Ich betete nicht oder doch kaum je. Der Religionsunterricht machte so wenig Eindruck auf mich, daß ich mich kaum erinnern mag, solchen überhaupt genossen zu haben. In der «Predigt» langweilte ich mich, und die Kinderlehre war mir verhaßt. Mit Christus kam ich auf keine Weise in Berührung. Rein weltliche Faktoren bildeten meine seelische Atmosphäre.
Es ist seltsam, daß ich von einem einzigen Worte weiß, das aus Kirche oder Schulstube her mir einen starken Eindruck machte, das Wort unseres Pfarrers Denz, daß wir «Kinder Gottes» seien. Das war mir etwas Erstaunliches und blieb haften, aber das allein.
Wie kommt es also, dass sich der Naturbursche Ragaz ausgerechnet in ein Theologiestudium verirrte?
Dazu mehr in der nächsten Folge am kommenden Samstag, den 12. November.
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