Die 1929 veröf­fentlichte Schrift “Von Chris­tus zu Marx — von Marx zu Chris­tus” bein­hal­tet vier Vorträge, in denen er das Span­nungs­feld zwis­chen diesen bei­den Polen auszu­loten ver­suchte. Oder ist das Bild mit den bei­den Polen vielle­icht falsch?

Im Vor­trag “Wie denken wir über Geschichts­ma­te­ri­al­is­mus und Klassenkampf?”, den er im Win­ter 1926/27 in Bern hielt, arbeit­ete er die Par­al­le­len und Unter­schiede zwis­chen dem mate­ri­al­is­tis­chen Geschichts­bild von Karl Marx und sein­er eige­nen Posi­tion heraus.

Mögen die herrschen­den Klassen vor ein­er kom­mu­nis­tis­chen Rev­o­lu­tion zit­tern. Die Pro­le­tari­er haben nichts in ihr zu ver­lieren als ihre Ket­ten. Sie haben eine Welt zu gewin­nen. Pro­le­tari­er aller Län­der, vere­inigt euch! So drama­tisch endet bekan­ntlich das drittmeistverkaufte Buch der Welt, das 1848 in Lon­don erschienene “Kom­mu­nis­tis­che Man­i­fest” von Karl Marx und Friedrich Engels.

Nach dem voll­ständi­gen Zusam­men­bruch des “realen Sozial­is­mus” mutet das Pathos heute reich­lich ver­staubt an, aber zur Zeit von Ragaz’ Vor­trag war der Kom­mu­nis­mus nach der Rus­sis­chen Rev­o­lu­tion die grosse Hoff­nung für bre­ite Massen und gle­ichzeit­ig der grosse Bürg­er­schreck weltweit. Auch wenn sich die Zeit­en sei­ther verän­dert haben, bleibt die Analyse des Bünd­ner The­olo­gen angesichts der unfass­baren Reich­tum­sun­ter­schiede auf dieser Erde und eines Chris­ten­tums, das in vie­len bren­nen­den Gesellschafts­fra­gen oft ori­en­tierungs­los vor sich hindüm­pelt, inter­es­sant und aufschlussreich.

Es tönt aus diesen Worten wie der Don­ner gewaltiger Katas­tro­phen der Geschichte — etwas vom Ton der Posaune des Gericht­es, die über unser­er heuti­gen Welt erschallt, kom­men­tierte Ragaz das Man­i­fest. In diesen Worten sind auch die bei­den Lehren aus­ge­sprochen, welche die Hauptpfeil­er des Marx­is­mus und damit die dog­ma­tis­che Grund­lage der Sozialdemokratie bilden: der Geschichts­ma­te­ri­al­is­mus und der Klassenkampf. Beson­ders bildet dieser, der Klassenkampf, ihr Grund­beken­nt­nis, ähn­lich wie sein­erzeit die “Recht­fer­ti­gung aus dem Glauben allein” das des Luther­tums und die “Prädes­ti­na­tion” das des Calvinismus.

Es fol­gt eine konzise Charak­ter­isierung dieser Grundpfeil­er des Marx’schen Denkens. Es lohnt, sie sich in seinen eige­nen Worten vor Augen zu führen, um anschliessend die Par­al­le­len und Unter­schiede von Ragaz’ eigen­er Posi­tion zum Sozial­is­mus bess­er zu verstehen.

Er ver­weist gle­ich zu Beginn auf den Unter­schied zwis­chen einem “meta­ph­ysis­chen Mate­ri­al­is­mus” — der Geist lediglich eine Funk­tion der Materie ohne selb­ständi­ge Bedeu­tung und Exis­tenz — , und dem “his­torischen Mate­ri­al­is­mus” von Marx:
(Er) will die Geschichte nicht auf Grund geistiger, d.h. sit­tlich­er, son­dern auf Grund materieller, d.h. wirtschaftlich­er Voraus­set­zun­gen begreifen. (…) Es ist eine Meth­ode der Geschichtss­chrei­bung, “die bei der Deu­tung geschichtlich­er Vorgänge von der materiellen, und das bedeutet: vor allem von den wirtschaftlichen Zustän­den ein­er Epoche aus­ge­ht und von ihnen aus alle übri­gen Erschei­n­un­gen zu erfassen sucht. Sie betra­chtet also den Geist in diesem Sinne nicht als Schöpfer, son­dern als Schöp­fung der Geschichte, deren let­zte Triebkraft jen­er Kampf ist, den das kom­mu­nis­tis­che Man­i­fest beschreibt. (…)

Die Art und Weise, wie die Men­schen wirtschaftlich ver­bun­den sind, vor allem die Art, wie sie pro­duzieren, kaufen und verkaufen, bes­timmt auf allen Stufen der geschichtlichen Entwick­lung ihr ganzes gesellschaftlich­es Ver­hält­nis und die ganze Kul­tur. Über dem Unter­bau der materiellen Ver­hält­nisse, die sich zunächst vor allem auch in den poli­tis­chen aus­drück­en, erhebt sich dann als Über­bau eine “Ide­olo­gie”: ein Recht, eine Moral, eine Philoso­phie, eine Kun­st, eine Reli­gion. Diese entsprechen genau der jew­eili­gen wirtschaftlichen und poli­tis­chen Struk­tur der Gesellschaft. Sie spiegeln sie wieder und sank­tion­ieren sie zugleich.

Wenn wir die Entste­hung des Chris­ten­tums aus dieser Sicht zu erk­lären suchen, erscheint es uns vor allem als eine Erhe­bung der ver­sklavten, recht­losen unteren Volks­massen. Der später ent­standene Heili­genkult spiegelt den mit­te­lal­ter­lichen Feu­dal­is­mus, die Ref­or­ma­tion ist der ide­ol­o­gis­che Aus­druck des zum Selb­st­be­wusst­sein erwacht­en städtis­chen Bürg­er­tums wie des neu erwacht­en nationalen Gefühls, das sein­er­seits auch wirtschaftliche Ursachen hat, genau so, wie in der franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion die Losun­gen der Frei­heit, Gle­ich­heit und Brüder­lichkeit nur die ide­ol­o­gis­che Form für den Anspruch der Bour­geoisie auf gesellschaftliche Vorherrschaft gegenüber dem Feu­dal­is­mus, und die ganze Moral und Reli­gion der heuti­gen Bour­geoisie nur eine Wieder­spiegelung und Sank­tion ihrer Klassen­lage und Klassen­herrschaft darstellen.
Let­ztlich ist der Kampf um den Fut­ter­platz und um die Macht die wesentliche Triebkraft der Geschichte. Reli­gion als “Opi­um des Volks” wird als Reflex ökonomis­ch­er Zustände von alleine ver­schwinden, wenn der Kampf des Pro­le­tari­ats siegre­ich been­det ist.

Laut Marx sind seine Ideen keine “Ide­olo­gie”, son­dern so wis­senschaftlich wie die Geset­ze der Physik oder der Chemie. Diese Wis­senschaft zeigt, wie aus dem Kap­i­tal­is­mus notwendig der Sozial­is­mus her­vorge­ht und welch­es die Tak­tik der Arbeit­er­schaft sein muss, wenn sie die Frucht dieser notwendi­gen Entwick­lung pflück­en will. Auf­grund dieser Wis­senschaft soll … die Arbeit­er­schaft ihren Kampf führen. (…) Es muss zu diesem Zweck zuerst sein­er Auf­gabe bewusst wer­den. Das ist sein Klassen­be­wusst­sein. Und es muss sich für jene Auf­gabe organ­isieren. (…) So kämoft das Pro­le­tari­at durch seinen Klassenkampf für die Aufhe­bung aller Klassen­herrschaft und eine Gesellschaft, die auf der freien Arbeit ruht. (…) Das siegre­iche Pro­le­tari­at richtet die Herrschaft des Men­schen über die Sache auf. Zum ersten­mal richtet sich der Men­sch die Gesellschaft nach seinem eige­nen Willen ein. 

Soweit der kleine “Crashkurs” von Ragaz zu den Hauptgedanken des Marx­is­mus. Man spürt — wie er sel­ber auch betont — dass er sich über Jahre hin­weg inten­siv damit auseinan­derge­set­zt hat.

Bekan­ntlich betra­chtete sich Karl Marx als Schüler Hegels, nur dass er dessen Philoso­phie endlich “vom Kopf auf die Füsse gestellt” habe, — von der hegel’schen ide­al­is­tis­chen Dialek­tik zum dialek­tis­chen Mate­ri­al­is­mus. Bevor wir uns nun mit der Posi­tion von Ragaz zu Karl Marx auseinan­der­set­zen, müssen wir zuerst noch einen Blick auf den philosophis­chen Antipo­den des his­torischen Mate­ri­al­is­mus wer­fen: den Ide­al­is­mus, dessen her­aus­ra­gen­der Vertreter neben Johann Got­tlieb Fichte und Friedrich Wil­helm Joseph Schelling bekan­ntlich Georg Friedrich Wil­helm Hegel war.

Dazu mehr in der näch­sten Folge am kom­menden Sam­stag, den 18. März.

An anderen Serien interessiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hein­er Koech­lin / Simone Weil / Gus­tav Meyrink / Nar­rengeschicht­en / Bede Grif­fiths / Graf Cagliostro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­woche und Don­ald Trump / Die Welt­woche und der Kli­mawan­del / Die Welt­woche und der liebe Gott /Lebendi­ge Birs / Aus mein­er Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reich­sidee /Voge­sen Aus mein­er Bücherk­iste / Ralph Wal­do Emer­son / Fritz Brup­bach­er  / A Basic Call to Con­scious­ness / Leon­hard Ragaz

Die Reichsidee 77
Aus meiner Fotoküche 100

Deine Meinung

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.