Wir werden nie vergessen, schrieb ein Mitarbeiter der “Neue Wege” 1965 — 20 Jahre nach dem Tod von Ragaz, wie er in seiner Monatsschrift im Oktober 1925 unter dem Titel «Auch ein Jubiläum» eine Darstellung des deutschen Bauernkrieges gab, die sich grundlegend von dem Bild unterschied, das man zu jener Zeit noch in den meisten Geschichtsbüchern Deutschlands, aber auch der Schweiz fand, oder auch von der Interpretation jener gewaltigen Ereignisse, die an der Großzahl unserer Gymnasien und Seminarien vermittelt wurde. Wir erwähnen dieses Beispiel seiner weltpolitischen Betrachtungen, weil es dem Schreibenden am augenfälligsten zeigte, wie das Suchen nach der Wahrheit nicht selten mit der Entthronung von beliebten, mancherlei Interessen dienenden Leitbildern verbunden ist.
Denn für Ragaz ging es mit der Analyse von Luthers Verhalten gegenüber den Bauern nicht nur darum zu zeigen, welche politischen und sozialen Konsequenzen dessen Positionierung auf der Seite “Obrigkeit” hatte:
… es handelte sich in jener großen Volkserhebung, der mächtigsten, die auf deutschem Boden je stattgefunden, noch um ungleich wichtigere Dinge … ; es handelte sich um die Auffassung der Sache Christi und das Verhältnis zwischen der Sache Christi und der Sache des Volkes; es handelt sich um das Schicksal der Reformation, das Schicksal des Christentums, das Schicksal des Reiches Gottes im Abendlande. (…)
Unsere Geschichtsschreibung und Geschichtsbetrachtung, die meistens im Dienste der Sieger und des Erfolges steht und die in unserem Zeitalter vorwiegend bürgerlichen Charakter besaß, hat das furchtbare und an innerer Bedeutsamkeit vieles, vieles andere, vielleicht sogar die Französische Revolution, übertreffende Blatt der Geschichte, auf dem diese Dinge verzeichnet stehen — Dinge, die freilich für unsere offizielle Welt, für die in Kirche und Staat herrschenden Mächte, keine Ehre sind — mit scheuer Eile überschlagen.
Nur so ist die vehemente Anklage von Ragaz wirklich zu verstehen:
Um 1525 war Luther aus dem Propheten und Reformator, der die Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation” geschrieben, schön der Theologe und neue Kirchenmann und aus dem stürmischen Revolutionär eine Stütze des Bestehenden geworden. Von Anfang an sah er die Erhebung der Bauern nicht gern. Sie war nicht von ihm direkt ausgegangen, und was nicht von ihm ausging, war von vornherein seiner Opposition oder Geringschätzung sicher. Noch mehr: sie stand stark unter dem Einfluss derer, die er als seine Gegner grimmig hasste und mit allen Mitteln, die gemeinsten nicht ausgenommen, verfolgte: von Karlstadt, Thomas Müntzer und ihren mehr oder weniger radikalen oder gemässigten Gesinnungsgenossen. Er, der Bauernsohn, der nun schon ein wenig ein neuer Papst geworden war und zu Wittenberg im Schutze eines Fürsten sicher sass, hatte für die Not der Bauern kein Herz. Diese Behauptung stelle ich mit Festigkeit auf. (…)
So entsteht die ungeheure Tragik, dass sich ausgerechnet der Mann, dem die Welt als dem Wiederentdecker des Evangeliums zujubelt, sich diesem als sein erbittertster Gegner entgegenwirft, wo es ihm auf den Wellen einer gewaltigen Volksbewegung begegnet. Die Bauern und ihre Gesinnungsgenossen sehen in ihm immer noch den grossen Volksmann und Befreier, während er schon der grösste aller Gegner der Demokratie und politisch-sozialen Befreiung geworden ist.
Entscheidend für Ragaz ist die Tatsache, dass Luther streng zwischen “Gottesreich” und “Weltreich” trennte, — mit fatalen Folgen:
Er hält ja streng das Reich Gottes und das Reich der weltlichen Ordnungen auseinander. Man soll nach ihm beide nicht verwechseln. Gut, dann hätte er den Bauern sagen sollen: „Euer Begehren ist nicht Evangelium im höchsten Sinne, aber ihr habt vom weltlichen Standpunkt aus recht und Recht muss euch werden. Nachher wollen wir dann weiter vom Evangelium reden.” Ein einziges Mal deutet er mit ein paar Worten — in zwei Nebensätzchen — diesen Gesichtspunkt an, aber dabei hat es sein Bewenden. Im übrigen befolgt er eine andere Methode.
Bald hält er den Bauern den Unterschied zwischen Evangelium und weltlicher Ordnung vor, bald aber wieder das Evangelium, das nach seiner Meinung nicht hieher gehört und zeigt mit allem, dass er in dieser Sache unehrlich ist, unehrlich aus rechthaberischer Leidenschaft — dass seine ganze Haltung in dieser Sache eine grosse Heuchelei bedeutet, einen schweren Missbrauch des Evangeliums, der diesem für lange bei den grossen leidenden Volksmassen allen Kredit geraubt hat. „Das Evangelium nimmt sich weltlicher Sachen gar nichts an” — das tönt nun fluchvoll durch die Jahrhunderte und tönt uns von rechts und von links her entgegen, wenn wir Christen und Sozialisten das Evangelium vom Reiche Gottes für die Erde verkündigen möchten.
Honni soit qui mal y pense, wem da nicht die Erinnerung hochkommt, wie 2020 Kirchenobere gegen das Engagement vieler Kirchgemeinden für die Konzerninitiative wetterten mit dem Vorwurf, die Kirchen müssten sich jeglicher politischer Einmischung enthalten …
Ragaz war sehr wohl bereit, das revolutionäre Engagement des Wittenberger Theologen für eine Erneuerung des Christentums voll und ganz anzuerkennen. Umso unverständlicher für ihn die abschätzige Haltung gegenüber dem einfachen Volk, dem er wenige Jahre zuvor mit seiner Schrift “Von der Freiheit eines Christenmenschen” Hoffnung auf ein menschenwürdigeres Leben gemacht hatte:
Und endlich der kalte Hochmut gegen das Volk: „Der Esel will Schläge und der Pöbel will mit Gewalt regiert sein; das wusste Gott wohl. Darum gab er der Obrigkeit nicht einen Fuchsschwanz, sondern ein Schwert in die Hand.” Dazu das fast noch schlimmere Wort: „Die Bauern wussten nicht, wie ein köstliches es sei um Friede und Sicherheit, dass einer seinen Ding mag Bissen und Trank friedlich und sicher gemessen, und dankten Gott nicht darum. Das müsste er bis jetzt auf diese Weise lehren, dass ihnen der Kitzel verging.” So wagt dieser „Mann Gottes”, der sich einen Jünger Christi nennt, ein Mann, dem es in dieser Beziehung zu Wittenberg ganz gut geht, von Volksmassen zu reden, deren Zustand durch den Ausruf eines jungen Bauern illustriert wird, der, bevor der Scharfrichter der Herren ihn schlachtete, jammerte: „O weh, ich soll schon sterben und habe mich mein Leben lang kaum zweimal an Brot satt gegessen!”
Leonhard Ragaz schrieb diesen Artikel 1925. Wenige Jahre vorher war es in Russland zur bolschewistischen Revolution gekommen, welche die Lehren von Karl Marx in die Praxis umzusetzen versuchte. Was bedeutete diese Entwicklung im Hinblick auf seine Reich Gottes-Idee mit der sozialen Gerechtigkeit als entscheidend wichtigem Pfeiler? Immerhin hatte er — wenn auch nur kurzzeitig — mit dem Zürcher Arzt Fritz Brupbacher (siehe die birsfaelder.li-Serie) zusammengearbeitet, der Feuer und Flamme für die Russische Revolution war. 1929 versuchte Ragaz, seine eigene Position in der Schrift “Von Christus zu Marx — von Marx zu Christus. Ein Beitrag” zu klären.
Ihr wenden wir uns in der nächsten Folge am Samstag, den 11. März zu.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz