Wir sprechen alle in der Regel vom “Christentum” und grenzen es so von anderen Religionen ab. Aber eigentlich müsste man von “Christentümern” sprechen, die sich manchmal diametral gegenüberstanden und ‑stehen: Brutales Abschlachten ganzer Völker in der Neuen Welt im Namen Jesu gegen Kampf für die Anerkennung der Indigenen als menschliche Wesen. Verteidigen von Dogmen über Leichen (z.B. Inquisition, Calvin) gegen Kampf für Toleranz (z.B. Friedrich von Spee, Castellio). Obrigkeitshörigkeit gegen Kampf um soziale Gerechtigkeit, Kungelei mit den Machthabern (aktuelles Beispiel: Russische orthodoxe Kirche) gegen mutiges Aufbegehren gegen Diktaturen, — die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden.
Um nun auf Leonhard Ragaz zurückzukommen: Der Kampf um soziale Gerechtigkeit und der weltliche und kirchliche Widerstand ist eine Konstante, die sich im Laufe der Geschichte in immer neuen Varianten gezeigt hat, — von der Waldenserbewegung über die immer wieder neu aufflammenden Bauernkriege bis zur Befreiungstheologie und deren Verurteilung durch den Vatikan.
1925 veröffentlichte Ragaz in seiner Zeitschrift “Neue Wege” einen Artikel mit dem Titel “Das Jahr 1525. Auch ein Jubiläum”. (Das andere bezog sich auf das Konzil von Nicäa im Jahre 325):
Das Jahr 1525 ist von gewaltiger und zugleich tragischer Bedeutung für die Geschichte Europas, die Geschichte des Christentums, die Geschichte des Reiches Gottes. Es ist ein seltsames Jubiläum, ein Jubiläum voll erschütternder Seelennot: die Erinnerung an die furchtbare Tragödie der grossen deutschen Bauernerhebung. … es handelte sich in jener grossen Volkserhebung, der mächtigsten, die auf deutschem Boden je stattgefunden, noch um ungleich wichtigere Dinge, als um politische und soziale Rechte und Freiheiten; es handelte sich um die Auffassung der Sache Christi und das Verhältnis zwischen der Sache Christi und der Sache des Volkes; es handelt sich um das Schicksal der Reformation, das Schicksal des Christentums, das Schicksal des Reiches Gottes im Abendlande.
Eine gewichtige Anklage! Aber ist sie gerechtfertigt?
Zu den Ursachen des grossen Deutschen Bauernkriegs 1524/26 und dessen Verlauf bis zum bitteren Ende existieren ganze Bibliotheken. In diesem Krieg schlug sich Luther im Gegensatz zu seinem Mit-Reformator Thomas Müntzer bekanntlich auf die Seite der Herren und forderte sie auf, den Aufstand der Bauern gnadenlos niederzuschlagen:
Drum soll hier zuschmeißen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann, und gedenken, dass nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann denn ein aufrührischer Mensch, gleich als wenn man einen tollen Hund totschlagen muss: Schlägst du nicht, so schlägt er dich und ein ganz Land mit dir. ((Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern, 1525)
In den Schul-Geschichtsbüchern kann man in der Regel lesen, dass Luther mit dieser Haltung seine Reformation retten wollte, die bei einer Parteinahme für die Bauern dem Untergang geweiht gewesen wäre. Aber Ragaz sieht das anders:
Die Sünde aller Sünden ist ihm der Aufruhr gegen die Obrigkeit. Er, der eine ganz unvergleichlich revolutionäre Erhebung gemacht hat, die Erhebung gegen eine Autorität, die für die Menschen viel mehr bedeutete, als der “Staat”, und dies grundsätzlich gesprochen mit Recht, tobt nun gegen Leute, die sich gegen viel, viel unwichtigere Autoritäten erheben. Ihm wird die “Obrigkeit” zum Papst. Ist das wirklich der ganze Fortschritt seiner Reformation?
Nachdem er seine Revolution soweit gemacht, als es ihm persönlich passte, soll die Welt an der Stelle stehen bleiben, wo er halt gemacht hat. Er, der die “Obrigkeit”, das heisst, diese ehrlosen, das Mark der Armen in Schwelgerei und Unzucht verprassenden, ihre Untertanen anlügenden und verratenden geistlichen und weltlichen Herren, mit Nachdruck als “christliche” in Anspruch nimmt, bestreitet den Bauernvereinigungen das Recht, sich diesen Namen beizulegen, den sie doch wahrhaftig mit hundertmal grösserem Rechte führen. (…)
Ein Christ, sagt er ihnen, soll dem Uebel nicht widerstehen, soll mit dem, der ihn eine Meile zwingen will, zweie gehen, wer ihm den Mantel nimmt, auch den Rock geben, wer ihm auf die rechte Backe schlägt, auch die andere bieten. “Aus diesen Sprüchen greift ein Kind wohl, dass christliches Recht sei, nicht sich sträuben wider Unrecht, nicht zum Schwert greifen, nicht sich wehren, nicht sich rächen, sondern dahingeben Leib und Gut, dass es raube, wer da raubt, Wir haben doch genug an unserem Herrn, der uns nicht lassen wird, wie er verheissen hat. Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz, ist der Christen Recht und kein anderes.”
Und dann bricht es aus Ragaz heraus:
Das also ist’s, was diesen Mann, der sichs in Wittenberg nun doch ganz ordentlich wohl sein lässt, diesen Volksmassen zu sagen hat, deren Zustand wir angedeutet haben, Volksmassen, deren leibliche und seelische Not unerträglich geworden war! Hätte er es ihnen doch wenigstens in einem anderen Tone gesagt, im Tone tiefsten Erbarmens und eigener Mitnot! Aber er redete diese Worte hochmütig und hart von oben herab, so dass sie wie Hohn klingen.
Und was das Schlimmste ist: er redet so nur zu den Bauern, nicht zu den Herren! Ich gestehe frei und offen und weiss, was ich sage: ein so schamloser und heuchlerischer Missbrauch mit dem Evangelium ist in der ganzen Geschichte des Christentums nicht leicht einmal getrieben worden, wie von diesem Wiederentdecker des Evangeliums bei diesem Anlass!
Harter Tobak! Tut Ragaz mit diesem harschen Urteil dem grossen Reformator unrecht?
Dieser Frage wollen wir in der nächsten Folge am Samstag, den 4. März nachgehen.
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