Zunächst sollte das innerlich reif Gewordene nach außen brechen. Und zwar in die Politik und dies besonders in den Sozialismus und die Arbeiterbewegung.
So beschreibt Ragaz in der Autobiographie, wie sich seine Basler “Reich Gottes”-Erfahrung für ihn ganz konkret auszuwirken begann. Zwar spürte er sich schon in Heinzenberg und in Chur mit den einfachen Arbeiterinnen und Arbeitern verbunden, aber in Basel trat seine Empathie zum ersten Mal klar ans Licht der Öffentlichkeit. Auslöser war der Maurerstreik am 5. April 1903. Bauarbeiter forderten — man höre und staune! — die Reduktion der täglichen Arbeitszeit von 10 auf 9 1/2 Stunden und einen Mindestlohn von 56 Rappen für Maurer und 40 Rappen für Handlanger. Die Basler Regierung antwortete mit einem Militäreinsatz und schlug so den Streik nieder.
Ragaz: Ich sehnte mich in Basel von Anfang an nach der Berührung mit der Arbeiterschaft, und zwar der sozialistischen. Dieser Zug zur Arbeiterschaft gehört zu den Grundelementen meiner Seele. Diese Liebe hat mir Gott gegeben; sie ist nicht anders zu erklären. So geschah es denn, daß diese aufgestaute Sehnsucht etwas stürmisch und vielleicht etwas voreilig durchbrach, als ich bei Anlaß eines die Leidenschaft erregenden Maurerstreiks in einer Predigt für die Arbeiter Stellung nahm.
Ragaz redete auf der Münsterkanzel dem Basler “Daig” ins Gewissen:
Die soziale Bewegung ist eben doch das weitaus Wichtigste, was sich in unseren Tagen zuträgt. (…) Sie ist eine Umwälzung aller bestehenden Verhältnisse, ebenso gross wie die Reformation und grösser als die Französische Revolution. (…) Wenn das offizielle Christentum kalt und verständnislos dem Werden einer neuen Welt zuschauen wollte, die doch aus dem Herzen des Evangeliums hervorgegangen ist, dann wäre das Salz der Erde faul geworden. (aus: Williy Spieler, Wie ein Christ Sozialist und Pazifist wird. in “Neue Wege”, Heft 10, 2012)
Was mich in Basel auch stärker als in Chur zum Sozialismus hintrieb, war besonders ein Moment: Ich erkannte noch deutlicher als dort, daß die tiefen Schäden unserer Gesellschaft, an denen mein Herz litt, nur durch eine völlige soziale Umgestaltung geheilt werden könnten. Dieser Eindruck hat sich später, als ich mitten in der sozialistischen Arbeiterbewegung wirkte, noch verschärft. Gerade dieses Ringen mit der Materie hat meinen Glauben an die Macht des Geistes mehr verstärkt als alle geistlichen und idealistischen Bücher. Aber wie damit schon angedeutet ist, konnte ich diese Stellung zu Marx und dem Marxismus nur gewinnen, weil ich sie nicht dogmatisch und philosophisch in ihrer Isolierung betrachtete und kritisierte, sondern ihren Sinn von Gott und Christus, mit andern Worten vom Reiche Gottes aus zu verstehen suchte.
Ragaz stand mit dieser Haltung nicht allein. Ein Jahr nach dem Maurerstreik veröffentlichte der Theologe Hermann Kutter, Pfarrer am Zürcher Neumünster, ein Buch, das im bürgerlich-christlichen Milieu wie eine Bombe einschlägt. Es trägt den Titel “Sie müssen! — Ein offenes Wort an
die christliche Gesellschaft”. Sie — das sind die Sozialdemokraten. “Sie müssen” — für eine gerechte Gesellschaft eintreten, weil die Kirche in der sozialen Frage versagt hat:
“Der Kirche gab Gott sein lebendiges Wort. Sie hat es zu einer selbstgerechten Frömmigkeit, zu Zeremonien und Satzungen verkehrt. Sie tändelt mit ihm. Andere müssen nun von dem reden, was die Kirche predigen sollte, andere ins Werk setzen, was ihre Aufgabe gewesen (wäre) … Andere — heute sind’s die Sozialdemokraten. Ja, es ist so: Gottes Verheissungen erfüllen sich in den Sozialdemokraten: sie müssen!”
(aus: Williy Spieler, Religiöser Sozialismus als Theologie der Befreiung, in Kurszeitung Nr. 5, Juni 2007)
Ragaz seinerseits folgte 1906 mit der Schrift “Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart”. Willy Spieler dazu im erwähnten Artikel:
Zentral für Kutter und Ragaz ist ein eschatologisches Verständnis der Geschichte: der Glaube an den lebendigen Gott, der sein Reich auf Erden errichten will und dafür Menschen zur Mitarbeit (be-)ruft. Damit haben sie den “theologischen” Boden für die religiös-soziale Bewegung bereitet. (…)
Der Name “religiös-soziale Bewegung” oder später “religiös-soziale Vereinigung” war “zufälliger und damit oberflächlicher Art”. Er kam “von dem Umstand her, dass wir in der ersten Zeit zu “religiösen und sozialen Konferenzen” einluden, schreibt Ragaz in seiner Autobiographie “Mein Weg”. Aber eigentlich passt der Name nie zu einer Bewegung, die sich im Glauben an das Reich Gottes gerade nicht als “religiös” verstehen wollte. Man sagte “religiöser Sozialismus, weil Reich-Gottes-Sozialismus etwas pompös geklungen” hätte, schreibt der Ragaz-Biograph Markus Mattmüller.
Als im November 2020 die Konzernverantwortungsinitiative zur Abstimmung kam, warnten diverse Kirchen“obere”, Religion mit Politik — konkret: mit dem Kampf um Menschenrechte und durch Gier verursachte ökologische Zerstörung — zu vermischen. Dass sich trotzdem Aberdutzende von Kirchgemeinden für die Initiative einsetzten, zeigt, dass Leonhard Ragaz nicht ganz vergeblich gekämpft hat.
In der nächsten Folge verlassen wir seine Autobiographie mit einem kleinen Exkurs über den Kampf im Christentum für soziale Gerechtigkeit in früheren Zeiten, und dies
am Samstag, den 25. Februar.
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