Als Leonhard Ragaz sich von Ärzten endlich überzeugen liess, dass er nicht vor seinem dreissigsten Lebensjahr ins Grab steigen müsse, erlaubte dies ihm, hoffnungsvoller in die Zukunft zu blicken, — und vielleicht sogar zu heiraten? Aber gleich relativiert er in seiner Autobiographie:
Es war nun aber nicht so, daß ich jetzt gleichsam Umschau unter den «Töchtern des Landes» gehalten und dann mit ruhigem Bedacht die gewählt hätte, welche mir am tauglichsten zu sein schien, sondern es war auch jetzt gar nicht meine Absicht, von der Erlaubnis zur Ehe Gebrauch zu machen. Nur eine echte und leidenschaftliche Liebe konnte mich dazu veranlassen. Daß sie auf Clara Nadig fiel, war Zufall in dem tieferen Sinne, den das Wort haben kann, und darum für viele eine große Überraschung. (…)
Wir hatten nicht allzu viele Beziehungen zueinander gehabt, jedenfalls nur gelegentliche und oberflächliche. Vielleicht daß Hinweise auf sie ein wenig Einfluß auf mich gewonnen hatten. Wie dann die wirkliche Liebe aufgeflammt ist, bleibe das Geheimnis, das ja gern über dieser Sphäre des Lebens waltet. Wir waren und sind von Natur sehr verschieden: Clara weltlich, wenn auch nicht im üblen Sinne, heiter, von Natur glänzend, anziehend, mehr auf Verstand und Wollen eingestellt, trotz der poetischen Begabung; nicht gerade zur Pfarrfrau geschaffen, ich schwerfällig und schwerblütig — mit den letzten Problemen ringend, dabei mehr Gemütsmensch als Verstandes- und Willensmensch.
Clara Nadig stammte aus einem alten und wohlhabenden Bündner Geschlecht, was nach der überraschenden Verlobung auch gleich zu Klatsch und Tratsch führte: Der junge Ragaz habe sich da eine vorteilhafte Lebensversicherung geangelt! Noch als alter Mann glaubte er sich gegen eine solch schäbige Unterstellung verteidigen zu müssen, wenn er schreibt:
Mir aber lag, das darf man mir glauben, alles näher als eine Geldheirat. Hätte ich eine solche gewollt, so hätte ich dafür sehr viel glänzendere Gelegenheit gehabt. Die Wahrheit ist vielmehr gewesen, daß, hätte ich von diesem Rufe der Familie Nadig gewußt (wie auch von jener Tatsache des Umworbenseins), dies für mich ein noch viel stärkeres Ehehindernis bedeutet hätte, als jenes andere, das ich geschildert habe.
Denn gerade an dieser Stelle, im Verhältnis zu Geld und Besitz, lag ja das große Problem meines Lebens, schon damals und später erst recht. Es war gerade die empfindlichste Stelle meiner Existenz. Als ich darum von dieser Stimme des Klatsches vernahm, war ich davon aufs tiefste bestürzt und verwundet. Daß man mir, gerade mir ein solches Verhalten zutraue und daß sogar der Schein gegen mich spreche, fiel als ein tiefer Schatten auf die Verlobung und auf mein ganzes Leben. Er hat dieses stark bestimmt. Und zwar als Stachel, der mich erst recht nach der entgegengesetzten Seite trieb.
Tatsache ist, dass Clara Nadig — selbständig und ihre eigenen Wege gehend — für ihren Mann zu einer wertvollen Stütze wurde, ohne die er die schweren Kämpfe in seinem späteren Leben wohl kaum hätte durchfechten können.
Nach seiner Hochzeitsreise nach Italien, wo ihn Florenz und Rom tief beeindruckten und seine lebenslange Liebe zu Dante und Michelangelo noch tiefere Wurzeln schlug, kam ein unerwartetes Angebot aus Basel: Pfarrer am Basler Münster! Und der erst 34-jährige Ragaz nahm an.
Dies sei eine der entscheidendsten Wendungen in seinem Leben gewesen, meinte er rückschauend. Aber erneut wurde ihm dieser Schritt negativ ausgelegt:
Der Entschluß, die Berufung an das Münster in Basel anzunehmen, war die Frucht einer tiefen äußeren und inneren Krise in meinem Leben. Ohne diese wäre ich nicht von Chur weggegangen. Auch Wohlwollende werden diesen Entschluß so ausgelegt und damit entschuldigt haben, daß die Kanzel des Basler Münsters eben höher sei als die der Martinskirche in Chur. Wieder schien ich gerade gegen das zu fehlen, was ich besonders stark verkündigt hatte und was mir auch ehrlich genug am Herzen lag, gegen das, was man Idealismus zu nennen pflegt, damit etwas Gutes und Hohes meinend. Und wieder tat man mir damit schwer Unrecht. Denn es war genau das Gegenteil, was mich von Chur wegtrieb.
Was dieses “Gegenteil” war, darüber schweigt sich Ragaz aus — es sei ihm nicht erlaubt, darüber zu sprechen. Doch muss er den Weggang von Chur erneut als schuld- und konfliktbeladen erlebt haben, denn er schreibt:
Was aber das andere Motiv, das Hauptmotiv betrifft, so hat es mich nicht davor bewahrt, den Weggang von Chur nicht nur als einen Fehler, sondern als eine Schuld zu empfinden. Ich war es der Stelle und war es den vielen Freunden in Chur schuldig, mindestens noch eine Zeitlang dort zu bleiben. Lange habe ich unter dieser Schuld tief gelitten, und ich habe sie auch schmerzlich büßen müssen.
Aber auch hier habe ich jene mein ganzes Leben begleitende und über ihm waltende Erfahrung der felix culpa, oder der die Schuld nicht bloß gutmachenden, sondern sogar zum Segen wandelnden Gnade Gottes gemacht. Denn ich kann nicht wünschen, daß ich nicht nach Basel gegangen wäre. So unauflöslich können sich Schuld und Schicksal (im höchsten Sinne des Wortes als Schickung, Führung verstanden) miteinander verbinden.
Zur Schuld gesellte sich etwas, von dem ich nicht weiß, ob ich es Torheit oder sogar Wahnsinn nennen soll. Es ist mir hinterher ganz unbegreiflich, woher ich den Mut nahm, mich auf die Münsterkanzel wählen zu lassen.
Basel wurde in mehr als einer Hinsicht zu einer entscheidenden Etappe auf dem Weg zu seiner ureigenen Theologie.
Darüber mehr in der nächsten Folge am kommenden Samstag, den 21. Januar.
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