“Anarchistische Lösungen in unserer übertechnisierten und zentralisierten Zivilisation sind praktisch schwer vorstellbar. Und doch drängen sich heute wie noch nie anarchistische Gedanken förmlich auf. Vielfach werden sie von Menschen ausgesprochen, die sich nicht Anarchisten nennen, von Anarchismus nichts wissen. Karl Marx hat den Anarchisten gegenüber recht behalten, als er meinte, die Gesellschaft entwickle sich zu immer mächtigerer wirtschaftlicher Akkumulation und politischer Zentralisation. Doch hat all dies nicht zu dem auch von ihm erträumten Sozialismus geführt. Der Anarchist Proudhon hatte seinerseits recht, als er sagte, Kapitalismus und Kommunismus seien nichts als die zwei Seiten desselben Prinzips autoritärer Gewalt.”
Mit dieser Feststellung begann die Reflexion Koechlins über die Frage, ob anarchistisches Gedankengut 1969, als er den Artikel schrieb — und umso mehr heute im Zeitalter der Globalisierung — noch irgendeine philosophische, kulturelle und politische Relevanz habe.
Für eine mögliche Beantwortung ist ein kurzer Blick zurück in die Geschichte des Anarchismus sinnvoll:
Als sich im Laufe der Frühindustrialisierung die Frage stellte, wie die ausgebeutete und unterdrückte Arbeiterklasse, das “Proletariat”, zu einem menschenwürdigen Dasein gelange, standen zwei Strategien zur Auswahl, Anarchismus oder Marxismus:
“Die erste internationale Arbeiterassoziation, die 1864 in London gegründet wurde, setzte sich von Anfang an aus zwei Haupttendenzen zusammen, einem zentralistischen Flügel unter der Führung von Karl Marx und einem antietatistisch-föderalistischen. Zum letzteren zählten französische Proudhonisten und die sogenannten Kollektivisten des schweizerischen Jura, Italiens, Spaniens und Belgiens. Marx führte gegen jede von der seinen abweichenden Meinung einen unversöhnlichen Kampf. Seine Waffe gegen die Föderalisten in der Internationale war nicht die offene, prinzipielle Auseinandersetzung, sondern die Intrige und die persönliche Verleumdung. Die Kommunisten von heute sind darin getreue Schüler ihres Meisters. Auf dem Haager Kongress des Jahres 1874 gelang es Marx, unter Zuhilfenahme solcher Methoden, die Föderalisten aus der Internationale auszuschliessen.”
Zwei Konzepte standen sich so diametral gegenüber:
- Aufbau einer von einer Elite geleiteten und kontrollierten Massenbewegung. Dieses Konzept von Karl Marx und Friedrich Engels führte — wie wir heute feststellen müssen — nicht zu einer befreiten, demokratischen und klassenlosen Gesellschaft, sondern zum “real existierenden Sozialismus” mit “Gulag”, Massenmord und der Knebelung geistiger Freiheit. Niemand hat diese Entwicklung besser beschrieben als George Orwell in seinen beiden Romanen “Die Farm der Tiere” und “1984”.
— Aufbau einer neuen Gesellschaft, die auf dem verantwortlichen Handeln mündiger Individuen beruht, die fähig sind, ihr Leben und ihr gesellschaftliches Engagement auf der Basis grundlegender ethischer Werte in selbstständiger Weise zu gestalten. Das ist die Grundidee des Anarchismus.
Sowohl Michail Bakunin als auch Peter Kropotkin empfingen entscheidende Impulse für die Entwicklung ihrer Ideen in der Schweiz:
“Bakunins föderalistisch-kollektivistische Überzeugung … war das Produkt einer Verbindung des spekulativen Temperamentes des Russen mit dem sachlich nüchternen Freiheits- und Gemeinschaftsgeist der jurassischen Uhrenarbeiter. «Ich bin fest davon überzeugt», schrieb später Peter Kropotkin, «dass die hervorragende Rolle, die dem Jurabunde in der Entwicklung des Sozialismus zukommt, nicht nur in der Bedeutung der antigouvernementalen und föderalistischen Ideen, deren Hauptvertreter er war, ihren Grund hat, sondern auch darin, dass diese Ideen infolge des gesunden Menschenverstandes der Uhrmacher des Jura in so vernünftiger Form zum Ausdruck gelangten. Ohne ihren Beistand wären diese Ideen vielleicht noch lange blosse Abstraktionen geblieben … die Prinzipien der Gleichheit, die ich im Jura herrschend fand, die Unabhängigkeit im Denken und im Gedankenausdruck, wie sie sich unter den dortigen Arbeitern entwickelte, und die grenzenlose Hingabe an die gemeinsame Sache, machten auf meine Gefühle einen noch stärkeren Eindruck, und als ich die Uhrmacher des Jura, nachdem ich 12 Tage unter ihnen geweilt hatte, verliess, standen meine sozialistischen Ansichten fest: Ich war Anarchist.»
Weil der Anarchismus auf die Einhaltung ethischer Werte pochte und auf dem freien individuellen Handeln aufbaute, waren seine Gegner nicht nur kapitalistische Ausbeuter, sondern noch viel mehr — und das hat einen tragischen Aspekt — die neue elitäre marxistische Elite, die ihrem eigenen Machthunger erlag.
— Das gilt für die Russische Revolution — als Lenin die freien Arbeiter und Soldatenräte, die “Sowjets”, in sklavische Ausführungsorgane der Kommunistischen Partei umwandelte, Trotzki den Aufstand der freien Kronstädter Matrosen in Blut ertränkte und Stalin schliesslich sein Terrorregime errichtete.
— Das gilt für die anarchistischen Bewegungen in der Ukraine und in Spanien, die einerseits von der Reaktion — in der Ukraine die “weisse Armee”, in Spanien Franco -, aber entscheidender durch die neuen, diktatorisch agierenden bolschewistischen “Herren” mit brutaler Gewalt ausgelöscht wurden.
— Das gilt auch etwa für die traditionellen anarchistischen Dorfgemeinschaften in Ostasien. Die einflussreiche Arbeiter- und Bauernorganisation Koreas wurde zuerst im Norden von den Kommunisten, später auch im Süden von den Antikommunisten ausgemerzt.
Wie schwach die zahlenmässig starken marxistisch orientierten europäischen Parteien waren, weil das autonome Individuum darin keine Rolle spielte, zeigte sich nirgends deutlicher als beim Ausbruck des 1. Weltkriegs. Angesichts des imperialistischen Gehabes der Kriegstreiber auf beiden Seiten erklang der Aufruf an die Arbeiterklasse “Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still”. Doch die Arbeiter folgten wie Schafe den nationalistischen Rattenfängern und schlachteten sich an den Fronten gegenseitig millionenweise ab … Und wenn ein Anarchist wie Gustav Landauer zum Widerstand gegen die Soldateska aufrief, wurde er nach dem Krieg von der Soldateska brutal gefoltert und erschossen.
Nach dem zweiten Weltkrieg hatten die beiden Brüder Koechlin noch auf die grosse anarchistische Revolution gehofft, doch nachdem die unfassbaren Gräuel des Dritten Reichs bekannt wurden, dämmerte ihnen, dass nur ein tiefer Wandel im Menschen selber eines Tages die Welt verändern würde:
“Realistischer Anarchismus ist eine geistige Aufgabe. Sie heisst: Schöpfung von neuer, lebendiger Gesellschaft, welche die gewaltsame Autorität unnötig und ohnmächtig werden lässt.”
Nur: Worin müsste dieser tiefe Wandel bestehen? Worin besteht diese geistige Aufgabe?
Was macht eigentlich ein freies selbstbestimmtes Individuum aus, das fähig würde, über das Darwin’sche Konkurrenzprinzip hinauszuwachsen, der Erkenntnis Kropotkins in “Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt” zu folgen und zusammen mit anderen freien und selbstbestimmten Individuen eine harmonische Gesellschaft aufzubauen, die im Einklang mit der Schöpfung lebt?
Heiner Koechlin stellte sich diese Frage natürlich auch. 1990 veröffentlichte er einen kleinen Band mit dem Titel “Philosophie des freien Geistes” mit Essays, in denen er auf der Suche nach einer Antwort war. Wir begleiten ihn auf dieser Suche gerne in der nächsten Folge.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz /