1969, als die Ideen von Daniel Cohn-Bendit, “Dany le Rouge”, und das Schicksal von Rudi Dutschke auch in Basel Diskussionsthema waren, veröffentlichte Heiner Koechlin am 29. Juni in der Sonntagsbeilage der National-zeitung einen langen Artikel, “Anarchismus, Gefahr, Illusion, Hoffnung?” Sein Ziel war, einerseits etwas “Nachhilfeunterricht” zu Wesen und Natur anarchistischer Ideen zu leisten, andererseits sich Rechenschaft darüber abzulegen, inwiefern diese Ideen für eine zukünftige Entwicklung der menschlichen Gesellschaft überhaupt noch wichtig waren. Es lohnt sich durchaus — 51 Jahre nach Erscheinen des Textes — einen Blick auf heute noch relevante Abschnitte zu werfen.
Koechlin beginnt seinen Artikel mit der Frage, wie zutreffend der in den Medien genannte “anarchistische Charakter” der Studentenrevolten überhaupt war:
“Im vergangenen Mai wurde auf der Pariser Sorbonne die einst ebenso geliebte wie gefürchtete, lange Zeit vergessene schwarze Fahne gehisst. Kapitalistische und kommunistische Regierungen beginnen die Anarchie wieder ernst zu nehmen als die Gefahr, die inmitten der kalten und heissen Kriege, die sie untereinander führen, beide gemeinsam bedroht. Gibt es diese «Anarchie» wirklich, oder ist sie eine blosse Erfindung der kapitalistischen und kommunistischen Regierungen, eine Fiktion, die sie brauchen, um ihre Völker von der Notwendigkeit ihrer Autorität zu überzeugen? Bedeutet die schwarze Fahne auf der Sorbonne mehr als einen mit historischen Reminiszenzen spielenden Studentenstreich?”
Dass diese Frage durchaus seine Berechtigung hatte, zeigt sich zum Beispiel an der Tatsache, dass sich Cohn-Bendit als marxistischen Anarchisten bezeichnete, — ein Widerspruch in sich selber, wie den aufmerksamen LeserInnen inzwischen hoffentlich klar geworden ist. Koechlin:
“Auf dem internationalen anarchistischen Kongress vom letzten September in Carrara liess eine kleine Schar von akademischen Neu-Anarchisten Fidel Castro hochleben, jenen kleinen kubanischen Lenin, der auf seiner Insel die freien Gewerkschaften und Genossenschaften zerstörte und die authentischen Anarchisten mit den liberalen Sozialisten erschiessen, einkerkern und ins Exil treiben liess. Diese ahnungslose Haltung der jungen Akademiker empörte die alten nicht-akademischen Kongressteilnehmer, welche Anarchisten waren im Sinne jener Schriften, die heute in Amerika und Europa wieder verlegt werden.”
Damit war schon einmal ein grundsätzlicher Irrtum, dem viele Studenten aufsassen, geklärt.
Jetzt galt es zu erklären, was denn die Essenz des anachistischen Gedankens ist:
“Das Wort Anarchismus als Bezeichnung einer sozial-revolutionären Ideologie stammt aus der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Damals definierte Elisée Reclus die Anarchie als den «letzten Ausdruck der Ordnung“. Diese anscheinend Definition wird sinnvoll, wenn man die «Anarchie» ihrem eigentlichen Wortsinne nach nicht als Unordnung oder Chaos, sondern als Nicht-Regierung oder herrschaftslosen Zustand versteht.
Der Gedanke des französischen Geographen und Revolutionärs ist nicht im 19. Jahrhundert entstanden, sondern wahrscheinlich so alt wie das sozial-philosophische Denken überhaupt. Zu ihm führt eine einfache Überlegung: Die Idee einer vollkommenen sozialen Ordnung können wir nur denken, wenn wir die Menschheit als eine Einheit voraussetzen. Jeder Herrschaftsanspruch eines Einzelnen oder einer Gruppe über die anderen ist ein Partikulares, das sich aus der Einheit löst und die Ordnung stört. … Hält man eine vollkommene soziale Ordnung nur für annähernd erreichbar, so gilt es immer noch, sich dem herrschaftslosen Zustand so weit anzunähern, als dies möglich ist.
So dachte Lao Tse, der einen Vers schrieb, den man folgendermassen übersetzt hat:
«Je grösser die Zahl der Gesetze und Verbote, desto grösser die Zahl der Diebe und Räuber.Ich tue nichts, und das Volk ordnet sich von selbst.» Das «Nicht-Tun» darf bei Lao Tse nicht als passive Haltung verstanden werden. Der Chinese meint dieses Wort ebenso wie der christliche Anarchist Leo Tolstoi als ein durchaus tätiges Nicht-Tun, ein nicht autoritäres, nicht gewalttätiges Tun, ein Tun, als ob man nicht täte. Dieses tätige Nicht-Tun kann man analog zum sokratischen wissenden Nicht-Wissen verstehen.
So sehr die historischen Tendenzen des Anarchismus je nach Zeit, Ort und Umständen in ihrer Philosophie, ihrer unmittelbaren Zielsetzung und Taktik voneinander abweichen, so ist es doch dieser Gedanke der gewaltlosen Ordnung allein, der sie geistig zusammenhält und den Anarchismus von anderen sozialen Ideologien abgrenzt.”
Tolstoi war ein radikaler Verfechter der Gewaltlosigkeit, weshalb Gandhi seinen ersten Ashram in Südafrika auch “Tolstoi” nannte. Im Anarchismus war die Frage der “legitimen Gewalt” ein Dauerthema. So schrieb einer der Väter des modernen Anarchismus, Pierre Joseph Proudhon, einmal an Karl Marx:
“… Fallen wir nicht in den Widerspruch Ihres Landsmannes Martin Luther, der, nachdem er die katholi-sche Theologie umgestürzt hatte, sogleich daran ging, mit Exkommunikation und Anathemas eine protestantische zu begründen… Geben wir der Welt das Beispiel einer weisen und vorausschauenden Toleranz… Erheben wir uns nicht zu Aposteln einer neuen Religion, und wäre es die der Logik und der Vernunft…Vielleicht sind Sie noch der Meinung, es sei keine Reform möglich ohne einen Handstreich, ohne das, was man früher eine Revolution nannte und was ganz einfach eine Erschütterung ist. Ich glaube, dass wir das nicht nötig haben, um zum Ziele zu gelangen … weil dieses Mittel ganz einfach ein Appell an die Gewalt, an die Willkür, kurz ein Widerspruch wären …”
Doch derselbe Proudhon half 1848 während der Revolution beim Barrikadenbau mit, und Koechlin fragt: “.. trieb nicht Jesus selbst die Händler mit Stockschlägen aus dem Tempel?”, um anschliessend festzuhalten: “Wenn Toleranz nicht Gleichgültigkeit ist, so ist sie Empörung und Revolte gegen Unfreiheit und Unrecht. Es gibt keine heilige Toleranz ohne das, was Miguel de Unamuno die «heilige Intoleranz» nannte. Aus diesem Widerspruch entspringt die Tragik aller revolutionären Bewegungen.”
Die kurze Phase der sog. “Propaganda der Tat” um die Wende des 19./20. Jhdts. mit ein paar spektakulären Attentaten hat dazu geführt, dass noch heute die Gleichung “Anarchismus = Terrorismus” fest in den Köpfen vieler Menschen sitzt, — zu Unrecht, wie Koechlin meint, denn:
“Den Glauben an die gewaltsame Revolution teilten nämlich diese Anarchisten mit allen radikalen Demokraten, Liberalen und Sozialisten ihrer Zeit. Von diesen unterschieden sie sich darin, dass sie der Gewalt nur eine negative, zerstörerische Rolle zubilligten. Zum Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung lehnten sie jedoch die Gewaltanwendung ab. Nach der Ausdrucksweise von Albert Camus wollten sie die «Revolte», das heisst den gewaltsamen Aufstand gegen einen Zustand, den sie als ungerecht empfanden, nicht aber die «Revolution», d.h. eine gewaltsame Einrichtung einer neuen Ordnung. So erklärte es sich, dass die Anarchisten oft die Vorhut von Revolutionen bildeten, immer aber auch zu deren ersten Opfern gehörten.
… Es gibt keine Religion und keine politische Ideologie, deren Geschichte nicht von einer mehr oder weniger terroristischen Phase belastet wäre. Terroristen hat es unter Katholiken, Protestanten, Royalisten, Demokraten und Nationalisten gegeben. Dieser Terror (Die Propaganda der Tat) kann nicht verstanden werden, ohne dass man den Klassenkampf berücksichtigt, der von seiten des Bürgertums mit heute unvorstellbarer Härte geführt wurde. Sicher hat der Terror dem Arbeiter, nicht zuletzt dem Anarchismus, mehr geschadet als genützt.”
In der nächsten Folge wenden wir uns anhand von Koechlins Artikel dem Spannungsfeld
“Individuum — Gemeinschaft — Freiheit — Gesellschaft — Staat” zu. Auch hier kann er uns ein paar höchst bedenkenswerte Reflexionen mitgeben, — und dies wie immer
am kommenden Samstag, den 18. Juni
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