Nach sein­er Rück­kehr aus Paris bere­it­ete sich Hein­er Koech­lin nach Abgabe sein­er Dis­ser­ta­tion “Die Paris­er Com­mune von 1871 im Bewusst­sein ihrer Anhänger” in ein­er kleinen Mansar­den­woh­nung am Unteren Rhein­weg mehr schlecht als recht auf das Dok­torat­sex­a­m­en vor. Während seine Arbeit als “her­aus­ra­gend” aufgenom­men wor­den war, reichte es unter den gestren­gen Augen von Wern­er Kägi und Edgar Bon­jour immer­hin noch für ein “cum laude”.

In sein­er Dis­ser­ta­tion hat­te sich Koech­lin inten­siv mit den Selb­stzeug­nis­sen der Com­mu­nar­den auseinan­derge­set­zt. “Ziel sein­er Arbeit sei es, so schrieb er in der Com­mune, die Wand­lun­gen rev­o­lu­tionären Bewusst­seins unter dem Ein­fluss ein­er gewalt­samen Auseinan­der­set­zung nachvol­lziehbar zu machen. Koech­lin wollte prüfen, wie der einzelne Rev­o­lu­tionär mit dem Span­nungs­feld zwis­chen Gedanken und Wirk­lichkeit umging. Wie sah das Ver­hält­nis zwis­chen dem Ide­al der Rev­o­lu­tion und der konkreten Wirk­lichkeit aus? Und wie gestal­teten sich Lösun­gen für die konkreten Prob­leme, die sich durch die Ver­wirk­lichung eines Ideals ergeben?”* Das sind zeit­lose Fra­gen, die ihn sein ganzes Leben beschäfti­gen soll­ten: “Ich schaue die Welt an als etwas mir nicht nur Gegebenes, son­dern auch Aufgegebenes.”

“Nun hat­te ich meinen Dok­torhut, doch noch keine Antwort auf die sich jet­zt zu stel­lende Frage: Was mit diesem anfan­gen?” Eine mögliche gut­bürg­er­liche Exis­tenz war kein The­ma. Jobs als Pack­er oder als Hil­f­sko­r­rek­tor bei der Nation­al-Zeitung und der eine oder andere Volk­shochschulkurs reicht­en für ein Existenzminimum.

Als sein Brud­er als Arzt nach Bergün zog, kon­nte er dessen Woh­nung an der Nauen­strasse übernehmen. Dort bildete sich rasch eine Gemein­schaft von
Gle­ich­gesin­nten, zu denen auch Jean Tingue­ly und Eva Aep­pli stiessen. Tingue­ly, damals noch Mit­glied der Kom­mu­nis­tis­chen Partei, fre­un­dete sich unter dem Ein­fluss Koech­lins mit anar­chis­tis­chen Ideen an, was wahrschein­lich der Grund für seinen späteren Parteiauss­chluss war, — und vielle­icht ein weit­er­er Impuls für seine über­bor­dende Kreativität?

An der Nauen­strasse war Schmal­hans Küchen­meis­ter. Und der ent­behrungsre­iche Aufen­thalt in Paris zeit­igte Fol­gen: Tuberku­lose, “die Krankheit der städtis­chen Armen”! Koech­lin reiste zuerst nach Bergün zu seinem Brud­er, gefol­gt von einem län­geren Aufen­thalt in der “Bahei­da”, der von der GGG gegrün­de­ten Basler Heil­stätte Davos. Dort traf er über­raschend wieder seinen Fre­und Isaak Auf­se­her, der sich und seine Fam­i­lie schlecht und recht als Hil­f­sar­beit­er über Wass­er zu hal­ten ver­suchte. Inter­es­san­ter­weise studierten sie zusam­men in Davos die Schriften eines anderen Anar­chis­ten, der später zum Begrün­der ein­er wel­tumspan­nen­den spir­ituellen Bewe­gung wer­den sollte: Rudolf Stein­er! Stein­er entwick­elte seine frühen anar­chis­tis­chen Impulse später zum Konzept der Sozialen Drei­gliederung, das immer noch sein­er Ver­wirk­lichung harrt.

Während sein­er Abwe­sen­heit hat­te Koech­lin die Woh­nung Tingue­ly unter­ver­mi­etet und musste bei sein­er Rück­kehr fest­stellen, dass dieser so ziem­lich alles, was von Wert war, verkauft hat­te ;-). Koech­lin scheint das — Anar­chis­mus oblige! — ziem­lich gelassen genom­men zu haben, — und Tingue­ly zahlte ihm später, als er etwas mehr bei Kasse war, einiges zurück.

Kass­abuch 1951

Noch in Davos waren Koech­lin und Auf­se­her auf die Idee gekom­men, ihren Leben­sun­ter­halt mit einem Büch­er-Anti­quar­i­at abzu­sich­ern. Vor­bild war die anar­chis­tis­che Buch­hand­lung von Hem Day in Brux­elles. Gesagt, getan: 1951 eröffneten die bei­den einen Laden in der Nähe des Aeschen­platzes. Aber Anfänger­fehler blieben natür­lich nicht aus. Koech­lin reiste regelmäs­sig nach Paris, um bil­lig deutschsprachige Büch­er einzukaufen. Dann ver­langten die bei­den ein­fach das Dop­pelte des Einkauf­spreis­es und merk­ten nicht, dass teure Samm­ler­stücke ein Vielfach­es wert waren. Die Anti­quar­i­atskol­le­gen in Basel kamen so immer wieder zu fan­tastis­chen Schnäppchen :-).
Koech­lin: “Isi und ich waren bei aller Ver­schieden­heit darin ver­wandt, dass unsere Ideen immer ungle­ich stärk­er waren als unsere Prax­is. … Seine Schwäche bestand … darin, dass er als Meis­ter des Schachspiels meinte, wenn eine Rech­nung aufge­he, die Sache schon gemacht sei. Die meine beste­ht darin, dass ich zwar manch­mal gute Ein­fälle habe, gewöhn­lich dann aber falsch berechne.”

1953 ergab sich dann die Gele­gen­heit, das Anti­quar­i­at an den Spalen­berg in einem abbruchreifen Haus mit ehe­ma­ligem Coif­feurgeschäft zu ver­legen, wo es auch bis zur Auflö­sung vor weni­gen Jahren geblieben ist.

Ein weit­eres Pro­jekt der bei­den war angesichts des grossen Man­gels an gün­sti­gen Woh­nun­gen in der Basler Region die Grün­dung von drei Wohngenossen­schaften in Riehen, Basel und Liestal, die dank der Mitar­beit eines Schulkol­le­gen Koech­lins, des Architek­ten Mar­cus Diener, im Laufe der Jahre tat­säch­lich auch real­isiert wur­den. Auf­se­her führte das Sekre­tari­at, Koech­lin über­nahm jew­eils das Präsidium.

Pro­jekt Genossen­schaft Lehenmattstrasse

Doch auch hier kol­li­dierten ide­ale Vorstel­lun­gen mit der Real­ität: In allen drei Genossen­schaften wurde Platz für Bib­lio­theken und kul­turelle Ver­anstal­tun­gen geschaf­fen. Doch die Mieter kauften lieber Autos und ver­langten den Bau von Gara­gen … “Grau, teur­er Fre­und, ist alle The­o­rie, und grün des Lebens gold­ner Baum”, heisst es in Goethes Faust. Der rus­sis­che Philosoph Nico­lay Berd­ja­jew sagt irgend­wo in sein­er Auto­bi­ogra­phie, ihm sei es immer umgekehrt vorgekom­men. Daran muss ich auch hier denken. Wie schön war unsere Genossen­schaft­sidee und wie grau der genossen­schaftliche All­t­ag! Die ganze Episode war für mich eine nüt­zliche, vielle­icht etwas teuer erkaufte Erfahrung”. Trotz­dem beurteilte Koech­lin den Auf­bau der Genossen­schaften als etwas vom Pos­i­tivsten, was er in seinem Leben geleis­tet habe.

Was macht man, wenn man fest­stellen muss, dass ide­ale poli­tis­che und soziale Vorstel­lun­gen und die tägliche Leben­sre­al­ität ein­fach nicht zur Deck­ung kom­men wollen? Was Koech­lin tat, erfährt die geneigte Leserin und der geneigte Leser wie immer

am kom­menden Sam­stag, den 27. Juni

*Schürch/Koellreuter, p. 112

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