P. und E. Geheeb Cassirer

In den let­zten bei­den Kriegs­jahren unter­richtete Hein­er Koech­lin, der 1941 das Mit­tellehrerdiplom erwor­ben hat­te, an der Ecole d’Hu­man­ité , die von den Reform­päd­a­gogen Paul und Edith Geheeb-
Cas­sir­er 1934 ins Leben gerufen wor­den war und die auch heute noch auf dem Hasliberg lebendig geblieben ist.

1946 besuchte er in Antwer­pen eine ehe­ma­lige jüdis­che Schü­lerin, in die er sich offen­sichtlich ver­liebt hat­te. Dort wurde ihm angesichts der leeren Strassen im ehe­mals von Juden bewohn­ten Vier­tel zum ersten Mal voll bewusst, was für ein Dra­ma sich für die europäis­chen Juden im 2. Weltkrieg abge­spielt hat­te. Ein weit­eres Dra­ma lernte er auf sein­er Rück­kehr in Paris ken­nen, wo er auf einige ver­sprengte Anar­chis­ten traf, die den Spanis­chen Bürg­erkrieg und die nach­fol­gen­den Internierun­gen, Ver­fol­gun­gen und Depor­ta­tio­nen unter dem Vichy-Regime in Frankre­ich über­lebt hatten.

Auf dem Eiffelturm!

Noch im gle­ichen Jahr kehrte er mit seinem Fre­und Isaak Auf­se­her nach Paris zurück, um offiziell seine Dis­ser­ta­tion über die Paris­er Kom­mune 1871 abzuschliessen, gle­ichzeit­ig aber die Möglichkeit eines Land­kaufs zu prüfen, auf dem eine anar­chis­tis­che Lebens- und Arbeits­ge­mein­schaft entste­hen kön­nte. Sparsamkeit war ange­sagt: “Da schliefen wir in einem Ehe­bett und froren erbärm­lich. Es herrschte ein strenger Win­ter und von Heizung kon­nte man in einem bil­li­gen Hotel nur träu­men. … Küm­mer­lich ernährten wir uns in einem in der Nähe des Pan­téons gele­ge­nen Stu­den­ten­restau­rant … Unvergesslich sind mir die “rouelles”, d.h. Wirbel­knochen, an denen, wenn man Glück hat­te, noch etwas Fleisch klebte, und den “mou”, mit welchem Wort man ein Stück weichgekochter Lunge verstand.”

Das Pro­jekt mit dem Land­kauf zer­schlug sich schon  bald. Dafür nah­men die bei­den Kon­takt mit zwei Organ­i­sa­tio­nen auf, die sich zum Ziel set­zten, die Anar­chis­ten inter­na­tion­al neu zu ver­net­zen und deren Arbeit zu koor­dinieren. Doch schon bei der Organ­i­sa­tion eines geplanten Kon­gress­es kam es zu Mei­n­ungsver­schieden­heit­en. Koech­lin und seine Basler Fre­unde wehrten sich vehe­ment gegen den Plan, irgendwelche Richtlin­ien und Statuten zu beschliessen: “Es ist unseres Eracht­ens falsch und wider­spricht den Ideen des Anar­chis­mus, wenn dieser inter­na­tionale Kongress zu einem andern Zweck als zur Füh­lung­nahme und zum Gedanke­naus­tausch zusam­mengerufen wer­den soll. …Ein solch­es Vorge­hen würde nichts anderes bedeuten, als dass der Weg der grossen Parteien beschrit­ten würde, die so katas­trophal ver­sagt haben. … Aus der Erken­nt­nis her­aus, dass die Bedin­gun­gen in den Län­dern der Erde ver­schieden sind, je nach der Entwick­lung der Völk­er und ihrer Lebens­be­din­gun­gen, lehnen wir alle binden­den Direk­tiv­en eines zen­tralen Organs ab, weil solche den lebendi­gen Geist der Bewe­gung töten würden.”

Als Auf­se­her von den franzö­sis­chen Behör­den aus­gewiesen wurde, blieb Koech­lin alleine zurück. Zusam­men mit seinem Brud­er Felix redigierte er als Nach­folge sein­er “Blät­ter für frei­heitlichen Sozial­is­mus” die Zeitschrift “Der Frei­heitliche Sozial­ist”. Gedruckt wurde auf­grund des gün­sti­gen Wech­selkurs­es in Paris, den Ver­trieb über­nahm dann Felix von Basel aus.

Um sich ein Bild von Koech­lins dama­li­gen poli­tis­chen Analy­sen zu machen, fol­gen hier ein paar Auszüge aus dem Artikel “Die Utopie als Ausweg” vom April 1947. Auch wenn die poli­tis­che Zweit­eilung der Welt in Ost und West so nicht mehr existiert, sind viele sein­er Gedankengänge heute genau so wertvoll und bedenkens-wert wie vor 70 Jahren:

“Wenn man uns frei­heitlichen Sozial­is­ten vorhält, Utopis­ten und Träumer zu sein, so weisen wir diesen Vor­wurf nicht zurück, son­dern wir sind stolz darauf, Utopis­ten und Träumer zu sein. Denn es gibt Zeit­en in der Geschichte, in denen sich alle Berech­nun­gen der soge­nan­nten Real­is­ten als Irrtümer und Fan­tasien erweisen und die «Träume»der Utopis­ten das einzig Reale und Sichere darstellen. … Es sind dies Zeit­en, in denen über­lieferte Ord­nun­gen zusam­men­brechen, in denen alle geisti­gen und moralis­chen Massstäbe der Gesellschaft sich zu Karika­turen verzehren, in denen die Men­schen im Reich­tum verkom­men und vor Hunger ster­ben, und in denen unter der Decke ein­er morschen Reli­gion und eines faulen öffentlichen Recht­es die bru­tale Gewalt tri­um­phiert und Ver­brechen über Ver­brechen anhäuft. Zu diesen Zeit­en gehört sich­er die unsrige. …

Der Lib­er­al­is­mus ist die poli­tis­che Ide­olo­gie, welche die Ord­nung der dem Gesellschaft freien Spiel der Kräfte des Ego­is­mus über­lassen will. Der Lib­erale der alten Zeit war ehrlich davon überzeugt, dass der Men­sch gut sei, wenn er eine rel­a­tive poli­tis­che Frei­heit und einen gewis­sen polizeilichen Schutz geniesse und sich damit beschäftige, für sich und die Seinen Geld zu ver­di­enen. Die höch­sten lib­eralen Ide­ale sind daher die Frei­heit der Konkur­renz und der Schutz des Eigen­tums. Auf diesen Grund­sätzen sind die Ver­fas­sun­gen der west­lichen Demokra­tien aufgebaut.

Hein­er Koech­lin am Anar­chis­tenkongress 1948 in Paris

Wer aber nimmt heute die Ide­olo­gie des Lib­er­al­is­mus noch ernst? Wer glaubt, in ihr heute noch einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Chaos, einen Weg zu Men­schlichkeit und Frieden zu find­en? Wohl nur sehr wenige Unen­twegte. Zu deut­lich sieht man heute, im Zeital­ter der Trusts, dass die Frei­heit der Konkur­renz ein reines Fan­tasiege­bilde ist, und dass der Schutz des Eigen­tums durch die demokratis­chen Staat­en nicht ver­hin­dern kann, dass die grosse Mehrheit der Men­schen ihres recht­mäs­si­gen Eigen­tums täglich beraubt wird. Zu deut­lich sieht man heute, dass dieses «freie Spiel der Kräfte» nichts anderes sein kann als ein Krieg aller gegen alle, und dass dieses Spiel, wenn ihm nicht Ein­halt geboten wird, in der Zer­störung der Zivil­i­sa­tion sein Ende find­en muss. .…

Will man also nach einem Ausweg suchen, so ist man gezwun­gen, den Blick von den «Real­itäten» des Tages abzuwen­den und die eigene Ver­nun­ft und das eigene ethis­che Empfind­en zu befragen,
da dies die einzi­gen Dinge sind, die Bestand haben.

Die Utopie, die ihre Quelle im Innern der Men­schen, im Gewis­sen und in der vernün­fti­gen Erken­nt­nis hat, ist von den Tages­parolen der Realpoli­tik unab­hängig und unan­greif­bar, sie allein kann dazu im Stande sein, uns einen Weg zu zeigen, der die men­schliche Gesellschaft aus ihrem Elend hinausführt.

Alle Men­schen, welche die grossen sozialen Umwälzun­gen der Geschichte geistig inspiri­ert haben, waren keine Realpoli­tik­er, son­dern Träumer und Utopis­ten. Ein Träumer war Jesus von Nazareth, der Verkün­der der Näch­sten­liebe, Utopis­ten waren die Philosophen des 18.Jahrhunderts wie Jean Jacques Rousseau, Voltaire und Diderot, welche die Frei­heit, die Gle­ich­heit und die Brüder­lichkeit zur Maxime der men­schlichen Gesellschaft erk­lärten. Träumer waren die ersten Sozial­is­ten des 19. Jahrhun­derts, welche diese Grund­sätze der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion aus der Sphäre des for­malen Recht­es auf das gesamte soziale Leben über­tra­gen wollten.

Der frei­heitliche Sozial­is­mus ist keine neue Idee son­dern lediglich eine Fort­set­zung der alten Utopi­en, deren Grundgedanke von kein­er Macht der Welt wider­legt und ver­nichtet wer­den kann, weil die Men­schen ihn immer wieder von Neuem und in neuen For­men aus ihrem moralis­chen Empfind­en und ihrer vernün­fti­gen Erken­nt­nis schöpfen.

Der frei­heitliche Sozial­ist sieht in der Erset­zung der mörderischen und selb­st­mörderischen Konkur­renz durch die Sol­i­dar­ität die notwendi­ge Vorbe­din­gung für den Bestand der Frei­heit des Einzel­nen wie der Gesamtheit. Gle­ichzeit­ig aber sieht er in der Frei­heit des Einzel­nen die notwendi­ge Vorbe­din­gung dafür, dass eine solche Sol­i­dar­ität über­haupt zu Stande kom­men kann. Er ist der Überzeu­gung, dass der Men­sch nur frei sein kann, wenn er in har­monis­ch­er Gemein­schaft mit seinen Mit­men­schen lebt. Er ist aber auch der Mei­n­ung, dass die Sol­i­dar­ität ein Wert ist, der seinen Sitz im Innern der men­schlichen Per­sön­lichkeit hat, und der darum nur wirk­sam wer­den kann, wenn die men­schliche Per­sön­lichkeit frei ist von aller Bevor­mundung und Unterdrückung. …

Nicht die Ver­staatlichung der Pro­duk­tion­s­mit­tel und die Aufrich­tung ein­er Partei­dik­tatur son­dern das Schaf­fen von For­men men­schlichen Gemein­schaft­slebens, welche die Ent­fal­tung der men­schlichen Per­sön­lichkeit zur Grund­lage haben und zugle­ich fördern, betra­chtet er als die wahre Auf­gabe des Sozialisten.

Diese Auf­gabe ist schw­er. Wer sie untern­immt, hat wed­er die Kap­i­tal­is­ten der Vere­inigten Staat­en noch die Kom­mis­sare Moskaus auf sein­er Seite. Ihm ste­hen wed­er Atom­bomben noch die Mit­tel der Massen-psy­cholo­gie zur Ver­fü­gung. Er ist darum kein Realpoli­tik­er son­dern ein Utopist und ein Träumer. Aber er besitzt etwas, was die anderen ent­behren, eine Idee, die in sich klar und logisch ist, weil sie dem inner­sten Wesen und dem inner­sten Bedürf­nis des Men­schen entspricht, und die darum dazu fähig ist, sich früher oder später durchzuset­zen und die Gesellschaft zu neuem Leben zu erwecken.”

Die Kom­mis­sare Moskaus sind “auf dem Kehrichthaufen der Geschichte” gelandet, wie Trotz­ki ein­mal einem poli­tis­chen Geg­n­er nach­höh­nte. Der amoralis­che neolib­erale Kap­i­tal­is­mus hat die Welt fest im Griff. Welche Gedanken Koech­lins bleiben auch heute aktuell? Span­nende Frage …

In der näch­sten Episode gehen wir unter anderem der Frage nach, was Hein­er Koech­lin mit Jean Tingue­ly verbindet, wie es zum berühmten Dr. Hein­rich Koech­lin-Anti­quar­i­at kam und wie er ver­suchte, seinen eige­nen konkreten Beitrag zur Ver­wirk­lichung des Gemein­schafts­gedanken zu leis­ten, — und zwar wie üblich

am kom­menden Sam­stag, den 23. Juni

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