“Mein religiöses Drama besteht darin, dass ich sehr qualvoll die üblichen orthodox gewordenen Vorstellungen von Gott und vom Verhältnis Gott — Mensch erlebe. Ich zweifle nicht an der Existenz Gottes, doch habe ich Augenblicke, in denen es mich wie ein Alpdruck überkommt. Wie nun, wenn die “Rechtgläubigen”, die die Beziehung zwischen Gott und Mensch soziologisch als die Beziehung zwischen Herr und Knecht auffassen, wie nun, wenn sie recht behielten? Dann ginge alles zugrunde. In der Reichweite der Religionen erscheint mir dieser Alpdruck wie das Erscheinen eines bösen Gottes, der von den Menschen aus ihrer sklavischen Empfindung heraus als guter Gott erträumt wird …”
Mit diesem Zitat endet Koechlins Artikel “Die Philosophie eines freien Geistes. Versuch über Nikolai Berdjajew”. Berdjajew gibt darin eindrücklich Zeugnis vom jahrhundertelangen Ringen um ein Gottesbild, das mit dem tiefen Willen des Menschen zur Freiheit vereinbar ist, und das bis heute andauert.
Bakunin verwarf angesichts der orthodoxen Vorstellungen vom Verhältnis Gott — Mensch, wie er sie in der Bourgeoisie erkannte und hasste, jeglichen Gedanken an eine “übernatürliche” spirituelle Instanz. So schrieb er in “Gott und der Staat”: “Da Gott der Herr ist, ist der Mensch der Sklave. Als Sklaven Gottes müssen die Menschen auch Sklaven der Kirche und des Staates sein, insoweit als der Staat von der Kirche geheiligt ist .. Ob es den Metaphysikern und religiösen Idealisten, Philosophen, Politikern und Dichtern gefällt oder nicht: die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Veneinung der menschlichen Freiheit und führt notwendigerweise zur Versklavung in Theorie und Praxis. Wenn Gott existiert, ist der Mensch Sklave. Der Mensch kann und soll aber frei sein. Folglich existiert Gott nicht. Ich fordere jeden auf, diesem Kreis zu entgehen. Und nun mag man wählen!”
Starker Tobak .… Koechlin seinerseits schien zu spüren, dass Bakunins radikale Folgerung nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss war, — sonst hätte er sich nicht mit Berdjajew auseinandergesetzt.
1986 hielt er einen Vortrag mit dem Titel “Anarchismus und Christentum”. Darin fasst er die Position der atheistischen Anarchisten, zu denen neben Bakunin u.a. auch Proudhon, Kropotkin und Elisée Reclus gehören, präzise zusammen:
“Für den atheistischen Anarchisten ist Gott der grosse Tyrann, der allmächtige Herrscher im Himmel und auf Erden, der seine Macht über die Menschen an geistliche und weltliche Herrscher und Bevorrechtete delegiert. Es handelt sich ganz einfach um die Umkehrung der Idee der Regierung von Gottes Gnaden, die während Jahrhunderten von Kirche und Staat nicht zu trennen war und heute in bürgerlicher oder sich protestantisch nennender philosophischen Hülle weiterlebt. Nicht zu Unrecht finden Liberale und Anarchisten diese Idee schon in der biblischen Überlieferung verankert. Doch kennt dieselbe biblische Überlieferung auch deren Verneinung in Form der Auflehnung gegen etablierte geistliche und soziale Hierarchie. … Eine Dissertation über Hierarchie und Anarchie in der Bibel würde Bände füllen. Beide sind da, gleich zwei Polen, zwischen denen sich ein hochspannendes geistiges Drama abspielt.”
Nach einem Exkurs über mittelalterliche und frühneuzeitliche Ketzerbewegungen, denen die Kirchen — ob katholisch oder protestantisch — mit Feuer, Schwert und Ertränken begegneten, verweist Koechlin auf die Lehre des “Ketzervaters” Joachim von Fiore von den drei Evangelien. Darin postuliert dieser nach dem ersten Evangelium des Vaters, dem zweiten des Sohnes die Ankunft eines dritten: “Es ist das Evangelium des Geistes …, in dem sich der heilige Geist als freie, schöpferische Kraft in jedem Individuum manifestiert. Mission des dritten Menschen ist die Schöpfung einer neuen Welt in der in ihm erschlossenen Freiheit”.
“Von hier aus geht ein Weg zur Mystik, aber auch zum Rationalismus. Spuren Joachims finden wir daher auch bei manchen Aufklärern, vor allem bei Lessing, und erst recht bei den frühen Sozialisten und Anarchisten des 19. Jahrhunderts.”
Doch wie es so geht, man kann jede Idee auch ins Gegenteil verkehren: “So spukt Joachim auch bei autoritären Denkern wie Hegel und Marx, denn Joachims Objektivierung von Vater, Sohn und Geist in drei zeitlich begrenzte Etappen lässt sich auch historisch deuten.
Es ging dieser Idee nicht anders als allen historischen und ideologischen Objektivierungen existenzieller Gedanken und Strebungen. Man verwandte das Gegenteil von dem, was man erreichen wollte, als Mittel zum Zweck, wobei sich in der Realität das schlechte Mittel stärker erwies als das erstrebte Ziel.”
Besser kann man die Pervertierung der Idee Fiores im “real existierenden Sozialismus” und im “Dritten Reich” unseligen Gedenkens gar nicht beschreiben! Und besser kann man — im radikalen Gegensatz dazu — die Grundidee des Anarchismus nicht beschreiben, als es Rudolf Rocker getan hat: “lch bin Anarchist, nicht weil ich an ein bestimmtes Endziel glaube, sondern gerade, weil ich nicht daran glaube, weil ich vielmehr der Überzeugung bin, daß nur die Freiheit zu immer weiteren Erkenntnissen und sozialen Lebensformen führen kann, während jeder Absolutismus des Denkens nur neue Dogmen schafft und uns neue Ketten anlegt. Darin liegt die Ursache jeder Tyrannei.”
Als eine solche Denkerin, die im 20. Jahrhundert genau das zu leben versuchte, was Rocker meinte, stellt Koechlin die Französin Simone Weil vor: “Diese eigenartige und eigenartige und eigenwillige Persönlichkeit kann man nirgends einordnen, weder im Christentum, noch im Anarchismus. Doch ist ihr Leben und Denken christlicher als ein landläufiges Christentum und anarchistischer als das mancher Anhänger eines anarchistischen Systems.”
Thomas Hirschhorn, der in Paris lebende Schweizer Künstler und seit der Hirschhorn-Affäre 2004 allseits bekannt, wurde ausgerechnet von der Weltwoche kürzlich eingeladen, das Titelblatt der Sondernummer zum 1. August zu gestalten. Es ist ein flammender Aufruf, sich mit Simone Weil auseinanderzusetzen. Und genau das werde ich — hoffentlich zusammen mit Lesern und Leserinnen — ab dem 12. September tun.
Heiner Koechlin führte in seinem Vortrag als Beispiele christlicher Denker mit anarchistischer Ader, die mit der “Freiheit eines Christenmenschen” Ernst machen wollten — und die Luther in seinem späteren Leben so schmählich verriet — auch drei Persönlichkeiten an, die interessanterweise alle direkt oder indirekt mit der Stadt Basel verbunden waren: Sebastian Franck, Miguel Servet und Sebastian Castellio**.
Wer sich mit dem Drama, das Miguel Servet mit Sebastian Castellio verband, beschäftigen möchte, dem sei die Lektüre von Stefan Zweigs “Castellio gegen Calvin oder ein Gewissen gegen die Gewalt” angelegentlich empfohlen. Wem eine Kurzfassung lieber ist, findet sie hier.
Sebastian Franck gehört zusammen mit Hans Denck zu jenen Vorkämpfern der “Freiheit des Geistes”, die im 16. Jhdt. als religiös Verfolgte schliesslich Zuflucht in Basel fanden. Um sie wenigstens etwas der Vergessenheit zu entreissen, sind ihnen und ihren Ideen die beiden kommenden Folgen am 29. August und 5. September gewidmet.
Damit verabschieden wir uns — wenigstens vorläufig — von Heiner Koechlin, der die “Freiheit des Geistes” über alles stellte und mit seinem Leben eindrücklich bezeugte.
** Dem Leben und Wirken Castellios widmet sich die in Basel ansässige Internationale Castellio Gesellschaft.
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