Das heute kaum mehr vorstellbare Elend in den Arbeiterfamilien mit der allzugrossen Kinderschar beschäftigte Brupbacher immer wieder:
Besonders an den langen Winterabenden waren die Bilder aufreizend. Es wurde nicht geheizt und nicht beleuchtet, da man sparen wollte. Und so lagen denn — auch da, wo mehrere Zimmer vorhanden waren — die Menschen der Wärme halber alle in einem Zimmer in ein oder zwei Betten eine ganze Herde. Gelegentlich gebar mitten in einem solchen Zimmer, unter der bereits vorhandenen Kinderschar, eine Mutter die folgende Nummer in einem Bett, wo es nicht mal Wäsche gab, einfach auf der Matratze. Wie oft habe ich das erlebt. Wie oft hat man Kindbettfieber unter solchen Verhältnissen gesehen.
Er erkannte klar die unhaltbare Situation völlig überforderter Mütter:
Und wenn die Mutter einer solchen Schar krank war? Niemand war da, der gekocht hätte, der die Kinder besorgt hätte. All das ist ja erst allmählich etwas besser geworden. Und wie war die geistige Verfassung dieser Frauen? Je elender es ihnen ging, um so gleichgültiger wurden sie. Nicht nur ihr Leib ging zugrunde — auch psychisch litten sie bis zur Leidenslosigkeit, bis zur Gleichgültigkeit, bis zum «Fromm-» und «Reaktionärwerden». Ihr Leiden in Form von Wut und stückweise auch von Intelligenzlosigkeit wandte sich gegen den Mann und gegen die sozialistischen Ideen des Mannes. Der Kindersegen und seine Folgen hing wie ein Bleigewicht an der ganzen geistigen und leiblichen Entwicklung der Familie.
Brupbacher sah auch die erzieherischen Folgen der elterlichen Überforderung:
Gewöhnlich sind auch die beiden, durch Not und Arbeit gequält, verbittert und gereizt, jeder geistigen Fortbildung bar, nicht dazu befähigt, Erzieher zu sein. Ruhe zu halten, zu strafen und zu prügeln, darin wird ihre ganze Erziehung bestehen. So kümmert man sich denn um das Kind hauptsächlich nur, wenn es stört. … Und das Erziehungsprodukt wird in gemütlicher und gedanklicher Hinsicht danach sein, es wird verwahrlosen.
Wie gross das Interesse war, als Brupbacher Möglichkeiten zur Empfängnisverhütung antönte, zeigte sich, als er zum ersten Mal darüber öffentlich referierte:
Diese Versammlung — es war im Jahre 1901 — war zum Brechen voll, in der ganzen Stadt sprach man von ihr, und eine Gewerkschaft nach der andern wollte, daß ich über dieses Thema spreche, zuerst in der Stadt und dann im ganzen Kanton und schließlich in der ganzen Schweiz. Auf meine Anregung hin beantragte die Holzarbeiter-Gewerkschaft der Arbeiterunion Zürich schon 1901 eine öffentliche Beratungsstelle, die von einer Aerztin geleitet werden sollte und die an jede Frau unentgeltlich Schutzmittel gegen ungewollte Schwangerschaft abgeben sollte.
Doch Brupbacher hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Sozialdemokratische Führer und der Vorstand der Arbeiterunion blockierten die Beratungsstelle mit der Begründung, Empfängnisverhütung zögere die Machtübernahme des Proletariats heraus. Ein weltberühmter Hygieniker verdammte die Anwendung von Verhütungsmitteln als “unappetitlich”. Der Hebammenverein stellte sich quer, und nach einem Vortrag wurde Brupbacher vom Staatsanwalt wegen Erregung öffentlichen Aergernisses und wegen Vornahme unzüchtiger Handlungen vor Kindern angeklagt, weil ein Vater zwei kleine Kinder mitgebracht hatte, als er ein Pessar zeigte.
Nach der zweiten höchst erfolgreichen Auflage der Broschüre “Kindersegen — und kein Ende?” verbot die kantonale Parteileitung den weiteren Druck, worauf sie in Deutschland weitervertrieben wurde. Aber auch da erhoben sich Stimmen, die monierten, die Geburtenkontrolle schwäche das proletarische Klassenbewusstsein, weil eine kleinere Kinderzahl zu einem höheren Lebensstandard führe und Arbeiter so zum Kleinbürger werden lasse, der für den Klassenkampf verloren sei.
All das hinderte den Grosserfolg von Brupbachers Broschüre in der Arbeiterschaft nicht. Man geht von einer Gesamtauflage einer halben Million aus.
Tempi passati … Aber es tut gut, wieder einmal zu realisieren, dass heute selbstverständliche Einsichten und Praktiken vor noch nicht allzu langer Zeit von Pionieren wie Fritz Brupbacher gegen grosse Widerstände erkämpft werden mussten.
In der nächsten Folge kehren wir in die eigentlich Klassenkampf-Arena zurück, und dies wie immer
am kommenden Freitag, den 5. März.
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