]eder, der nicht weiss, was tun, kommt zu mir. Ich wer­de ange­pumpt, muss Bür­ge sein, soll Frau­en bera­ten, die von ihren Män­nern geprü­gelt wer­den. Ich soll Beru­fe wis­sen fiir die Kin­der, Pro­tek­tio­nen schrei­ben, bin Arzt, Advo­kat, Beicht­va­ter, soll Kin­der abtrei­ben und für sol­che sor­gen! stöhn­te eines Tages der Arzt Brup­ba­cher, und ergänz­te: Und dazu die öffent­li­che Tätig­keit!

Tat­säch­lich droh­te ihm sein Enga­ge­ment für die sozia­lis­ti­sche Sache über den Kopf zu wachsen:
Die Bewe­gung fraß mich auf — aber noch mehr eigent­lich der inne­re Zwang, der Bewe­gung zu leben. Ich hät­te doch jeder­zeit von mei­nen Aem­tern demis­sio­nie­ren kön­nen, hät­te sagen kön­nen : «Mei­ne Pra­xis ist so groß, daß ich jetzt nicht mehr jeden Abend zu Sit­zun­gen und Vor­trä­gen gehen kann.» Man hät­te das begrif­fen. Ich konn­te mich aber gegen den Drang, an allem teil­zu­neh­men, nicht weh­ren. Der stieß ein­fach von innen her; er war eine Art Gewis­sen, eine Zwangs­idee. Es trieb mich, wider Wil­len, für die Arbei­ter­be­we­gung zu arbei­ten. Ich hat­te sogar manch­mal eine sehr star­ke Abnei­gung, es zu tun. Ich hat­te die größ­te Lust, all mei­nen andern Nei­gun­gen zu leben. Ich ver­fluch­te direkt mei­ne sozia­le Seite.

So beschreibt Brup­ba­cher den ers­ten Kon­flikt, der in ihm ange­sichts der rie­si­gen Arbeits­last auf­brach. Die Ursa­che war ihm durch­aus klar:
Etwas Unbe­stimm­tes in mir wehr­te sich gegen das Auf­ge­hen in der Bewe­gung. Ich woll­te «ich» sein bei all mei­nem Sozia­lis­mus. Immer mehr for­mu­lier­te sich des­halb mein Gefühls­zu­stand in dem Satz : «Die Idee lebt und das Indi­vi­du­um geht zugrunde.»

Dazu kam, dass er trotz sei­ner Hei­rat mit Lydia Petrow­na ein­sam blieb. Von Anfang an war abge­macht, dass sei­ne Frau in Russ­land für die sozia­lis­ti­sche Sache kämp­fen wür­de. Zwar schrie­ben sich die bei­den oft mehr­mals in der Woche, aber das konn­te die Abwe­sen­heit Lydi­as — abge­se­hen von kur­zen Feri­en­auf­ent­hal­ten in der Schweiz — nicht kom­pen­sie­ren. Nächt­li­che Besu­che in einem Café, um etwas unter den Leu­ten zu sein, war ein küm­mer­li­cher Ersatz.

Noch um eini­ges schwe­rer wog aber sei­ne Ent­täu­schung über die Parteihierarchie:
Ich trat in die Sozia­lis­ti­sche Par­tei ein mit dem Wil­len, die bür­ger­li­che Gesell­schaft und ihre Kul­tur mit mei­ner Pro­pa­gan­da zu unter­gra­ben. Die Par­tei des Pro­le­ta­ri­ats soll­te der Dyna­mit sein, der die­se Gesell­schaft in die Luft zu spren­gen hät­te. Als ich mir die­se Par­tei etwas näher ansah, merk­te ich, daß sie aus recht ver­schie­de­nen Tei­len bestand, daß aber kei­ner von ihnen so ganz dyna­mit­ar­tig war.
Die obers­te Schicht, die sich an den Mit­ar­bei­ter­aben­den der Pres­se zusam­men­fand, bestand aus meist ganz intel­li­gen­ten Köp­fen und mach­te den Ein­druck von gutem, bür­ger­li­chem Mit­tel­stand. Sie tran­ken ihr Drei­er­li Wein und tran­ken nie zuviel. … Sie schau­ten zu, daß die Kin­der nicht von den gut­bür­ger­li­chen Bah­nen abwi­chen, und es gelang ihnen auch, Rechts­an­wäl­te, Beam­te, kurz — gute Bür­ger aus ihnen zu machen. …

Man war eine ego­zen­trisch-arbei­ter­li­che Bewe­gung, die an die Gesamt­ge­sell­schaft gar nicht dach­te. … Der gan­ze Geist der Bewe­gung unter­schied sich von dem der Bür­ger nur dar­in, daß man es weni­ger gut hat­te als die Bür­ger und es gern eben­so­gut gehabt hät­te. Man war Kapi­ta­list ohne Kapi­tal. Wo es immer anging, such­te man durch die Poli­tik auf­zu­stei­gen. Die poli­ti­sche Kar­rie­re war eine Art Ersatz gewor­den für das Klein­meis­ter­wer­den, das schwie­ri­ger gewor­den war. Anstatt Maler­meis­ter wur­de man Arbei­ter­se­kre­tär und Bezirks­rich­ter. Die Poli­tik wur­de ein neu­er, gar nicht schlech­ter Weg zum per­sön­li­chen Auf­stieg. Wie die Fami­lie der Kern der bür­ger­li­chen Gesell­schaft war, wur­de der pro­le­ta­ri­sche Jass­klub die poli­ti­sche Zel­le des pro­le­ta­ri­schen Zukunftsstaates. …
Es gab bei den Schwei­zer Arbei­tern ein hoch­mü­ti­ges Ver­ach­ten der als «chai­be Schwa­be» titu­lier­ten Deut­schen und der als «Tsching­gen» ver­ächt­lich benann­ten Ita­lie­ner. Oft prü­gel­ten auch unse­re Sozi ihre Frau­en, und statt der viel­ge­pre­dig­ten Soli­da­ri­tät bestand böser Neid um ein paar Rap­pen Lohn, die ein ande­rer mehr hat­te … Der poli­ti­sche Appa­rat stank nach Spie­ße­rei. Wäre das Pro­le­ta­ri­at in der Mas­se so gewe­sen, man hät­te ver­zwei­feln kön­nen. Glück­li­cher­wei­se aber war dem nicht all­ge­mein so.

Har­te Wor­te! Da inter­es­sier­ten ihn kon­kre­te Pro­jek­te, um das Los der unte­ren Schich­ten zu erleich­tern, eini­ges mehr. Ein sol­ches Pro­jekt war die — damals höchst revo­lu­tio­nä­re — Pro­pa­gie­rung der Gebur­ten­kon­trol­le. Nüch­tern und scho­nungs­los beschrieb er, was er tag­täg­lich sah:
Ich wur­de zumeist zu Men­schen geru­fen, die sich nicht vor einem sozia­lis­ti­schen Arzt fürch­te­ten … Und die­se Leu­te waren zumeist Leu­te, denen es recht schlecht ging. Sie hat­ten vie­le Kin­der. Da lie­fen sie her­um mit ihren Schnu­der­na­sen, oft auch auf der Stras­se nur mit einem Hemd beklei­det, rachi­tisch, mit krum­men Bei­nen und dün­nen Kno­chen, mit Haut­aus­schlä­gen, mit Drü­sen behaf­tet. Es war zum Kopf­schüt­teln, wenn man den dicken Bauch der schwan­ge­ren Frau eines Hand­lan­gers sah, die schon ein hal­bes Dut­zend Kin­der hat­te, die unter­ernährt, rachi­tisch, skru­pu­lös waren, wo die Fami­lie sowie­so schon von der Für­sor­ge betreut wer­den muss­te, da der Lohn des Man­nes nicht aus­reich­te. Konn­te denn was Gutes im Bauch einer so aus­ge­mer­gel­ten Frau wachsen?

So ver­fass­te er 1903 eine Bro­schü­re mit dem Titel “Kin­der­se­gen — und kein Ende?” Damit stach er aller­dings in ein eigent­li­ches Wes­pen­nest. Dazu mehr in der nächs­ten Folge

am kom­men­den Sams­tag, den 26. Februar.

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