Während seines mehrwöchigen Aufenthalts in Moskau hatte Brupbacher Gelegenheit, sich dank seiner schon in Zürich geknüpften Kontakte breit zu informieren. Er fand offene Türen bei der obersten bolschewistischen Führung: bei Trotzki, Bucharin, Radek, Lunatscharski und Menschinski, Mitglied des Präsidiums der schon damals gefürchteten Geheimpolizei, der Tscheka.
Dazu kamen Gespräche mit Intellektuellen aller Stufen und politischen Schattierungen, mit einem Mitglied des obersten Wirtschaftsrates, mit Arbeitern in Moskau und Kasan, mit Anarchisten und Angehörigen der sogenannten Arbeiteropposition. Die Gespräche begannen in der Regel mit Fragen nach dem persönlichen Lebensstandard, dann kam der Vergleich mit der zaristischen Zeit, dann die Beurteilung der Bolschewiki und ihrer Politik. Daraus ergab sich, so gut das mit dieser “Methode” und in der kurzen Zeit überhaupt möglich war, ein einigermassen objektives Bild von den Lebensbedingungen, von der Regierungspolitik und ihrer Popularität. (Karl Lang, Kritiker, Ketzer, Kämpfer)
Brupbacher nahm bei diesen Diskussionen kein Blatt vor den Mund und kritisierte, wo sich aus seiner Sicht Fehlentwicklungen zeigten. So meinte er zu Menschinski, die Bolschewiki müssten sich wandeln, wenn sie gut und effizient regieren wollten.
Menschinski verbot ihm zwar, solange er in der Sowjetunion sei, solche Ansichten mündlich oder schriftlich weiter zu verbreiten, verabschiedete ihn dennoch herzlich und mit der Versicherung, er sei “der einzige menschliche Mensch gewesen, den er in seiner Emigrationszeit in Europa unter Westlern gefunden habe.” (Lang). Brupbachers Haltung wäre schon wenig später einem Todesurteil gleichgekommen …
Am meisten beschäftigte ihn die von Lenin verordnete NEP, die teilweise Rückkehr zum Kapitalismus:
Die Fragen, die sich da aufdrängten, lauteten: Wieso hat die Gemeinwirtschaft versagt? Lag es allein an der Unfähigkeit der Massen? Taten die Bolschewiki alles, um die Initiative von unten zu fördern?
Brupbacher kam zum Schluss, dass die Probleme auf beiden Seiten zu verorten waren. Einerseits erschwerte die vorkapitalistische Psyche der Russen — das Fehlen des Zeitbegriffs und mangelnde Arbeitsdisziplin — ein effizientes Wirtschaften. Andererseits hatte die Überzeugung Lenins, die straffen Organisationsprinzipien der Partei auch auf die Wirtschaft übertragen zu können, eine lähmende Wirkung. So wurden Gewerkschaften, die einen wirksamen Beitrag zum ökonomischen Wiederaufbau hätten leisten können, auf Parteilinie getrimmt, indem die Bolschewiki von oben herab die Einsetzung eines ihnen genehmen und oft inkompetenten Vorstands durchsetzten.
Am ehesten fand Brupbacher seine revolutionären Vorstellungen bei der sog. “Arbeiteropposition” wieder. Sie hatte sich ein Jahr vorher gebildet und kämpfte sowohl gegen die wachsenden Zentralisierungstendenzen der Parteiführung als auch gegen die Umwandlung der Gewerkschaften in reine Staatsorgane:
Alexandra Kollontaj … war eine gute Bekannte Brupbachers aus der Vorkriegszeit. Sie belehrte ihn, dass die NEP, von ihr als “Verrat am Kommunismus und an der Arbeiterschaft” verurteilt, gar nicht nötig gewesen wäre, wenn die Bolschewiki die spontanen Kräfte der Arbeiterschaft nicht gehemmt, sondern gefördert hätten, wenn man weniger kommandiert und mehr Kompetenzen nach unten delegiert hätte. … Als Ausweg aus der rasch wachsenden Bürokratisierung, die immer mehr jede Aktivität der Masse unterdrücke, sah Kollontaj nur noch eine neue, die sogenannte dritte Revolution.
Auch hier zeigte sich die Fähigkeit Brupbachers, differenziert zu urteilen:
Ich hatte mich oft gewehrt gegen den kindlichen Optimismus eines Kropotkin in bezug auf das plötzliche Erscheinen großer konstruktiver Eigenschaften im Volk zur Zeit der Revolution. Daß aber die Arbeiterschaft in die Fabrik, in den Produktionsprozeß quasi hineingeschleppt werden müsse, daß sie so wenig Initiative entwickeln würde, war doch auch für den Skeptiker überraschend.
Am liebsten hätte ich den Bolschewisten unrecht gegeben darin, daß sie nicht nur im destruktiven, sondern auch im produktiven Teil der Revolution so despotisch vorgingen. Aber alles, was man sah und hörte, zeigte einem, daß die Arbeiterschaft nicht genügend Initiative hatte, um die Despotie in der Produktionssphäre unnötig zu machen.
Ich hatte einen freiheitlichen Sozialismus gewollt, und nun konnte ich für Rußland nicht denen recht geben, die glaubten, man könne sich beim Aufbau auf die freie Initiative der Arbeiterschaft verlassen. Ich hatte mir unter Sozialismus Brot und Freiheit vorgestellt, und nun mußte man sich alle Mühe geben, ein Stück Brot zu erringen, und die Frage der Freiheit, der Selbstbestimmung der Menschen, wurde gar nicht erörtert — und zwar nicht in erster Linie deshalb, weil es eine despotische Partei gab, sondern deshalb, weil die Masse aufgepeitscht werden mußte zur Produktion, und nur geführt — und streng geführt produzierte.
Meine Enttäuschung war eine Enttäuschung an der spontan-konstruktiven Kraft der Masse. Eigentlich eine Enttäuschung an den Massen. Eine Enttäuschung nicht am Bolschewismus, sondern am Sozialismus überhaupt. …
Die kleine Anekdote anlässlich seiner Rückkehr in die Schweiz spricht Bände:
Und immer wartete ich auf mein Eisenbahnbillett, und immer erhielt ich keines. Das verleidete mir, und als eines Abends ein Bekannter, der nach Petrograd abreiste, mir Adieu sagte, fuhr ich per Auto mit ihm zur Bahn, setzte mich ohne Billett in einen Eisenbahnwagen, und als der Kontrolleur kam, erklärte ich ihm, ich wiche nur der Gewalt, und schrie in einem fort : «Ja wratsch Trotzkawo», das heißt ich bin der Arzt von Trotzki. Diese Worte wirkten magisch; man ließ mich im Wagen, und man gab mir sogar einen Schlafwagenplatz, und so kam ich bis nach Petrograd. Dort hatte unser Zug zwölf Stunden Aufenthalt, bis er nach Narwa und Reval weiterfuhr. Man lud mich ein, den Zug zu verlassen. Da man mir aber im Tram in Moskau meinen ganzen Besitz gestohlen hatte, ich also mittellos war, zog ich es vor, die zwölf Stunden im Bahnwagen zu verbringen, um so mehr, als ich mir sagte : «Drin bin ich, ob man mich wieder rein läßt ohne Billett, weiß ich nicht.» Am nächsten Tag fuhren wir ab und ich kam ganz richtig, wieder ohne Billett, nach Reval. (Estland)
Wie sich sein russischer Aufenthalt für seine Arbeit zuhause auswirkte, ist das Thema der nächsten Episode, und dies wie immer
am kommenden Samstag, den 3. September
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