Wenn man 1914 innerhalb der sozialistischen Bewegungen zwei Antipoden nennen müsste, könnte man problemlos Leonhard Ragaz und Leo Trotzki nennen.
Auf der einen Seite Ragaz, der religiöse Sozialist, der festhielt:
Wir bekennen uns zu einem religiösen Sozialismus, das heißt zu einem Sozialismus, der in der Botschaft vom Reiche Gottes, in der Gotteskindschaft und Bruderschaft, der gegenseitigen Verantwortlichkeit (namentlich der Stärkeren für die Schwächeren), der Absage an den Mammonismus, dem Glauben an den lebendigen Gott und Christus und sein gekommenes und kommendes Reich begründet und verwurzelt ist.
Und weiter: Das Gottesreich Jesu Christi … schließt unter anderem den tiefsten und völligsten Sozialismus ein, der sich denken läßt. Diesen Punkt vertreten wir fest gegen jeden Widerspruch. Gegen ihn wird auch am meisten Widerspruch erhoben. (Wikipedia)
Auf der anderen Seite der Marxist Trotzki, der in dem 1914 in Zürich erschienenen Manifest “Der Krieg und die Internationale” schon eine kommende gewalttätige Revolution prophezeite und in der Oktoberrevolution in Russland 1917 neben Lenin tatsächlich eine zentrale Rolle spielen sollte:
Das Proletariat, das durch die Schule des Krieges gegangen ist, wird beim ersten ernsten Hindernis innerhalb des eigenen Landes das Bedürfnis empfinden, die Sprache der Gewalt zu brauchen. „Not kennt kein Gebot!“, so wird es demjenigen zurufen, der versuchen wird, es durch die Gebote bourgeoiser Gesetzlichkeit zurückzuhalten. Und die Not, jene furchtbare wirtschaftliche Not, die im Laufe dieses Krieges und nach seiner Einstellung herrschen wird, wird geeignet sein, die Massen zur Verletzung so mancher Gebote zu drängen. … Dies wird zu tiefgehenden politischen Konflikten führen müssen, die, sich immer erweiternd und vertiefend, den Charakter einer sozialen Revolution annehmen können, deren Gang und Ausgang zurzeit selbstverständlich niemand vorausbestimmen kann.
Der zutiefst desillusionierte Brupbacher konnte sich für die revolutionären Parolen Trotzkis nur halbwegs erwärmen. Als dieser sein Manifest in der “Eintracht” in einer mehrstündigen Rede vortrug, eine Resolution verfasst wurde und zur Abstimmung gelangte, stimmte Brupbacher zwar dafür, aber
Nicht so sehr weil ich für sie war, als weil ich nicht gegen sie war. Glaubte aber nicht an ihre Wirksamkeit. Ich mochte nicht schon wieder grosse Wörter machen oder hören. (Brupbacher. Ketzer)
Trotzki reiste schon bald weiter nach Paris. Später sollte er seinerseits ziemlich bissig über Brupbacher urteilen, in dem er zu dessen Publikation “Vom Kleinbürger zum Bolschewik” meinte:
Ich habe eine hinreichend klare Vorstellungen von den damaligen Ansichten Brupbachers bekommen, um mich völlig der ersten Hälfte dieses Titels anzuschliessen. Was die zweite Hälfte anbetrifft, so übernehme ich für sie keine Verantwortung.
Als Brupbacher 1921 Trotzki in Moskau noch einmal persönlich traf, hielt er in seinen Erinnerungen dazu treffend fest:
Er ist zweifellos ein außerordentlich ernster und begabter Mensch. Aber mir schien schon, als ich ihn in Zürich kennen lernte, daß er sehr autoritär sei. Menschen waren ihm Schachfiguren. Der Mensch als Individuum interessierte ihn nicht. Ihn interessierte nur das klassenmäßig Allgemeine am Menschen — wie das bei jedem Politiker der Fall ist. Ich sagte ihm einmal in Zürich, das Ideal meiner Politik sei, alle Einzelindividuen mit all ihren Nuancen zum Ausgangspunkt zu nehmen, während sein politisches Objekt der generelle Mensch, der generelle Klassenmensch sei, und er war mit dieser Auffassung einverstanden.
Wie alle Marxisten, war er größenwahnsinnig, weil ein Marxist sich fühlen mußte als Stellvertreter und Mitwisser «Gottes», das heißt des historisch Notwendigen auf Erden. Wie alle Marxisten, wußte er, wohin die Weltgeschichte geht ; wie alle Marxisten, hatte er den Hochmut und Stolz desjenigen, der das Werkzeug der Vorsehung ist.
Die andern Marxisten haben ihm da nichts vorzuwerfen. Das einzige, was sie ihm vorwerfen könnten, wäre, daß er viel gescheiter, gebildeter, fähiger und anständiger ist als sie. Ein wirklicher Kulturmensch — abzüglich den Marxismus.
Dass Brupbacher damals immer stärker zur Überzeugung gelangte, wirklicher sozialer Fortschritt könne nur durch eine entsprechende Entwicklung des Einzelindividuums — nicht nur im Proletariat — erreicht werden, zeigt sich auch an folgender etwas handfesten Klassifizierung:
Es gibt Leute, denen ihre eigene Selbsterhaltung so wichtig ist, daß sie in der Bewegung immer unzuverlässig sind, und das nannte ich die hundsgemeinen Köter. Bernhardinerhunde aber nannte ich die Menschen, die imstande sind, sich mit Leidenschaft etwas anderem hinzugeben als nur ihrer spießigen Existenz. Und ich fand, daß es in allen ökonomischen Klassen Bernhardinerhunde und auch hundsgemeine Köter gäbe. Es gab eine Unmenge von Proleten, die nur Kapitalisten ohne Kapital waren, und auch in der Bourgeoisie gab es Menschen, die etwas anderem als nur dem Mehrwert leben wollten.
Aus den Bernhardinerhunden aller Klassen eine Art Partei zu machen, schwebte mir vor, und ich dachte natürlich, eine solche Partei müsse eine sozialistische Partei sein und müßte an die Stelle der jetzigen sozialistischen Parteien treten. Sie dürfte nur ein Alliierter des Proletariats sein und sich nicht mit ihm identifizieren. … Daß man sich gerade dieser Bernhardinerhunde, dieser besondern Menschen annehme, schien mir das Wichtigste. …
Im weitem hätten die besondern Menschen dann den Versuch zu machen, die Nichtbesondern dazu zu bewegen, eine nicht gewöhnliche, eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu schaffen. Sie hätten sie vorerst einmal zum Klassenbewußtsein und im weitern zum Menschheitsbewußtsein zu bringen — also eigentlich den hundsgemeinen Köter zum Bernhardinerhund, den egozentrischen zum hingebenden Menschen zu entwickeln.
So hätte man erwarten können, dass es zu einer engeren Zusammenarbeit mit dem Kriegsgegner Leonhard Ragaz kam.
Aber es blieb bei wenigen erfolglosen Versuchen:
In dieser Zeit hatten wir geglaubt, wir könnten mit den «Sozial-Religiösen» ein Stück zusammengehen. Die waren ja auch gegen den Krieg, und waren auch der Meinung, Saufen, Fressen und Huren könnten nicht das einzige, das Endziel der Menschheit sein.
Aber der Unterschied zwischen uns war eben doch, daß wir fanden, der Mensch brauche die materiellen Genüsse, und mit Recht, und auch das Proletariat soll sie haben, und nur noch etwas dazu — nämlich den Willen, die Welt bewohnbar zu machen für alle und nicht nur für eine bestimmte Klasse.
Aber es ging nicht: Wir waren für Fressen, Saufen und Huren, und die Sozial-Religiösen wollten gar nichts wissen von den Vergnügungen des Bauches und der Zunge, und so fiel unsere Allianz auseinander, bevor sie recht zustande gekommen war.
Und er urteilte einmal etwas sarkastisch: Ragaz sagt immer, er könnte sterben für eine Sache; leben scheint er dafür nicht zu können.
Besser verstand er sich mit einem Mitarbeiter von Ragaz, dem Theologen und Religionslehrer Jean Matthieu, der in seiner Analyse zur sozialen Situation und den Erfordernissen der Zeit in vielem mit Brupbacher übereinstimmte. So kam es zu einer Zusammenarbeit im nächsten Projekt Brupbachers, der Herausgabe der Zeitschrift “Der Revoluzzer”.
Dazu mehr in der nächsten Folge am kommenden Samstag, den 18. Juni.
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Max Ziegler
Jun 11, 2022
Super, einfach grossartig!
Vielen Dank.