Karl Lang, Verfasser der 1975 im Limmat-Verlag erschienen einzigen Biografie über Fritz Brupbacher, charakterisierte ihn und sein Wirken im Vorwort zum Buch so:
Wie alle Nonkonformisten ist auch Brupbacher schwer einzureihen und zu etikettieren. Bei den Sozialdemokraten galt er als antisozialistischer Anarchist, bei den Kommunisten als kleinbürgerlicher Individualist, die Historiker verwenden für seinesgleichen verschiedene, gegeneinander nicht genau abgegrenzte Begriffe wie Anarchosozialist, Anarchosyndikalist oder libertärer Sozialist. Diese Schwierigkeit der Klassifizierung mag für Lexika und andere Nachschlagewerke ein Nachteil sein, die Kehrseite davon ist jedoch die andauernde Aktualität vieles dessen, was Brupbacher gedacht und getan hat.
Wenn er auch, getreu seiner anarchistischen Grundhaltung, niemals eine leitende Position in irgendeiner Organisation innehatte, so übte er doch während Jahren einen bedeutenden Einfluß aus auf Sozialdemokratie, Gewerkschaften und Jugendorganisation —ob in aufbauendem oder destruktivem Sinne, bleibt dem Urteil des Lesers überlassen. Mag man sich zu seinem Wirken stellen wie man will, geistige Unabhängigkeit und Altruismus wird man ihm nicht absprechen können.
Damit sei der Vorhang geöffnet für eine hoffentlich unterhaltsame — und vielleicht sogar zum Nachdenken anregende — Folge zum Leben des lebenslangen Ketzers, wie er sich nicht ganz ohne Stolz selber bezeichnete.
Der 1874 in Zürich geborene kleine Fritz entstammte einer Familie, die es geschafft hatte, ihre wirtschaftliche Existenz auf eine sichere bürgerliche Grundlage zu stellen. Sein Vater war vom Prokuristen einer Seifen- und Bürstenfabrik bis zum Besitzer eines Hotels an der Bahnhofstrasse aufgestiegen. Sein Sohn urteilte später hart über ihn:
Es war der personifizierte Kleinbürger dieser Zeit, fast mehr, wie er im Buche steht, als wie er im Leben vorkommt. Sogar unter seinesgleichen war er eine Ausnahme oder eine Art Gipfelpunkt. Pflicht, Pflicht, Pflicht — bis einem die Pflicht zum Halse heraushing. Aber von einer ganz außerordentlichen Ehrlichkeit. Verstand sich gar nicht auf vergnügliche Dinge. Sein einziges Pläsier war neben dem Vaterwerden und Vatersein das Turnen. Andere als Kassabücher flößten ihm keinen großen Respekt ein, und das ständige Romanlesen der Mutter war ihm ein Dorn im Auge. (alle Texte in blau sind Auszüge aus Brupbachers Autobiographie)
Die Mutter Brupbachers war so ziemlich das Gegenteil. Sie stammte aus dem liberal gesinnten Bürgertum. Der jugendliche Brupbacher fand in der mehrere tausend Bände umfassenden Bibliothek seines Grossvaters mütterlicherseits Zugang zu geistigen Welten, die ihm die autoritäre Erziehung durch den Vater verhasst machten:
Ich habe so sehr durch die Misshandlung durch meinen Vater gelitten …, dass ich alle Tyrannen der Welt am Kragen nehmen musste. Mir scheint, ich kam deshalb in die Politik. Deshalb in die öffentliche Aktivität. Und da ich etwas zerstören wollte, kam ich zu der damals einzigen Klasse, die das wollte, und das war das revolutionäre Proletariat.
Aber bis zum glühenden Sozialisten dauerte es noch eine ganze Weile. Im Gymnasium sog er die klassischen Bildungsideale in sich auf. Lessing, Schiller und Goethe waren seine Helden. Schon da zeigte sich ein charakteristischer Wesenszug: Nach einem Vortrag des berühmten Psychiaters und Ameisenforschers Auguste Forel über die Gefahren des Alkoholkonsums gründete er zusammen mit seinem Freund, dem späteren Völkerrechtler Max Huber, flugs einen abstinenten Gymnasialverein mit dem Ziel, zur Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft beizutragen. Sozialismus war aber für ihn kein Thema, ja er lehnte dessen Ziele schlichtweg ab:
Mir fiel am Sozialismus auf, daß er das Kollektiv zum Herrn über das Individuum machte. Und davon hatte ich genug. Litten wir Individualisten doch unter der gesellschaftlichen und staatlichen Herrschaft des Kollektivs der Spießbürger-Krämer. Darum waren wir überhaupt gegen die Herrschaft der Kollektivs und wollten nicht einfach das bürgerliche mit dem arbeiterlichen Kollektiv vertauschen. Ja, der Staatssozialismus, und eine andere Art Sozialismus kannten wir nicht, schien uns die auf die Spitze getriebene Tendenz der Krämer, das Individuum zu unterdrücken und ihm den letzten Rest noch vorhandener Freiheit zu rauben.
Das sollte sich aber bald ändern, als Brupbacher zuerst in Genf und dann in Zürich Medizin studierte. Als einige weibliche Studierende an der Uni Zürich die schockierende Idee hatten, im Studentenkonvent das passive Wahlrecht zu verlangen, setzte sich Brupbacher sozusagen als Proto-Feminist für deren Anliegen ein:
Mein Gegenkandidat war Muster und Vorbild der schlimmsten Art schweizerischer Studenten. Er konnte saufen wie keiner, war Sohn eines berühmten Schützen, Hypermilitarist und Hyperpatriot. Zudem Beschützer der Ehre der Frau, was ihn später dazu führte, Sittenkommissär in Zürich zu werden.
Brupbacher und seine Freunde siegten — dank der tatkräftigen Unterstützung der “russischen Kolonie”, der Gemeinschaft russischer Studentinnen und Studenten, die sich in der Schweiz ausbilden liessen. Doch die Gegner gaben nicht klein bei:
Schweizerische Studentinnen zusammen mit reichsdeutschen Studentinnen — Arm in Arm mit den Korporationstudenten — traten mit dem ganzen bombastischen Pathos des Spießbürgers gegen das Frauenstimmrecht und die Vertretung der Frauen im Studentenkonvent auf. Wilhelm Teil, Stauffacher plus Frau und Winkelried mußten herhalten ; die Heiligkeit der Familie und die sittliche Würde des weiblichen Geschlechts wurden angerufen. Vaterland, Familie, Eigentum und Ordnung — alles beschwor der Hauptredner der Gegner der studierenden Frauen, der sich bezeichnenderweise Hohl nannte. Von unserer Seite wurde zu klug und differenziert geredet, und als es zur Abstimmung kam, siegten Familie, Heiligkeit der Frau und Vaterland, worauf wir das Signal für unsere Anhänger gaben, das Lokal zu verlassen.
Die Unterlegenen traten aus dem Studentenkonvent aus, konstituieren sich in der “Allgemeinen Studentenschaft” neu und wählten Brupbacher gleich als Präsidenten: Ich wurde der Schweizer, an den man sich als fortschrittlicher Ausländer wandte und gleichzeitig von nun an sowohl von meinen Kollegen als auch von den Russen als eine Person schweizerischer Art von einem ganz besonderen Kaliber betrachtet.
Unter den weiblichen Mitgliedern befand sich neben Rosa Luxemburg auch die Russin Lydia Petrowna, eine glühende Sozialistin, deren grosses Lebensziel war, der rückständigen russischen Bauernschaft sozialistische Ideen nahezubringen. In stundenlangen Diskussionen gelang es ihr, Brupbacher, den überzeugten Individualisten, für das sozialistische Ideal zu begeistern. Hilfreich war ohne Zweifel auch, dass er einerseits bei einer ärztlichen Stellvertretung in einem Zürcher Arbeiterviertel zum ersten Mal mit dem dortigen Elend konfrontiert wurde und sich andererseits inzwischen in die temperamentvolle Russin verliebt hatte:
Ich verschlang nicht nur Bebels «Frau und Sozialismus», sondern auch Wilhelm Liebknechts «Wissen ist Macht» und das «Kommunistische Manifest», und all das zusammen versetzte mich in eine mächtige Exaltation. Es schien mir, daß die Welt von vorne anfinge. Es schien mir, ich selber würde von einer Macht umgeknetet, um Sauerteig zu werden für die Entstehung eines neuen Universums. Und als Lydia Petrowna im Mai 1898 wieder nach Zürich kam, offerierte ich ihr mein Herz und mein eben erstandenes sozialdemokratisches Mitgliedsbuch.
Fortsetzung am kommenden Samstag, den 5. Februar.
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Elisabeth Hischier
Jan 30, 2022
Lieber Max
Hochinteressant! Danke für deine neue Reihe. Bin gespannt, wie es weitergeht!
Elisabeth Hischier