Im Dezember 1906 erschien die erste Nummer der Zeitschrift “Polis”, herausgegeben von Brupbacher und vier weiteren Autoren. Nur Brupbacher und sein Freund Max Tobler standen aktiv in der Arbeiterbewegung, aber alle fünf waren angetrieben von der gleichen Sehnsucht:
Wir sind ausgezogen aus der bürgerlichen Gesellschaft, weil sie die Seele an den Mammon vertauscht. Weil sie alles dem Gelderwerb unterordnete, weil sie keinen andern Inhalt mehr kannte als den Gewinn. Das konnten wir nicht ertragen. Wir wollten das Leben geniessen, und das hat uns die bürgerliche Gesellschaft, die Kaufleute und die Künstler und die Wissenschafter, alle miteinander, nicht gestattet. Da rissen wir uns los. (Brupbacher, Ketzer)
Im Grunde genommen war es ein anarchistisches Projekt. Jeder durfte schreiben, was er wollte, jeder bezahlte seine Artikel selber, und selbstverständlich wurden keine Inserate angenommen, (das birsfaelder.li lässt grüssen 🙂 ) Brupacher hatte nach dem Zusammenbruch der revolutionären Bewegung in Russland 1905 die Hoffnung auf eine baldige Revolution in Europa verloren.
Die tägliche politische Arbeit in der Zeit des Glaubens hatte mich vereinfacht. Da die Revolution vor der Türe stund, fand man, es seien raffinierte künstlerische und intellektuelle Genüsse und Tätigkeiten nicht zeitgemäß. Die gehören nicht in eine Zeit großer sozialer Umwälzungen, wenn man sich auch vorstellt, daß sie an ihrem Ende stehen, und daß ihre Unbefriedigtheit Ursache revolutionärer Gefühle sei. Als das sich aber änderte, fand man, daß man jetzt schon ein bißchen Kulturmensch sein dürfte und schuf sich neben dem Sozialen und Politischen eine Art kulturelles Neben- oder Privatleben ...
Das führte dazu, dass er die alleinige Ausrichtung der sozialistischen Bestrebungen auf materielle Besserstellung des Proletariats mehr und mehr als einseitig und ungenügend empfand.
Eine Sammlung der heimatlosen sozialistischen Intellektuellen war das Ziel, eine Vereinigung jener Einsamen, die sich abgestossen fühlten vom Erwerbstrieb des Bürgertums, denen es aber auch nicht recht wohl war in einer Arbeiterbewegung, deren Sozialismus sich im Alltag weitgehend erschöpfte im Kampf um ökonomische Verbesserungen. (Lang, Brupbacher)
In seiner Autobiographie meinte er: Die Politiker waren meist kulturlose Spießer auch auf seiten der Sozialisten, und die bürgerlichen Intellektuellen waren entweder dem Sozialismus gegenüber verständnislos oder sogar seine heftigsten Gegner. Uebrigens waren die meisten von ihnen nicht einmal Kulturmenschen im Sinne der bürgerlichen Kultur ; wir aber waren stolz darauf, aus Kulturbedürfnis von den Bürgern weggegangen zu sein, und der Sozialismus war uns etwas, das uns in letzter Linie deshalb interessierte, weil er die alte Unkultur beseitigen sollte.
Im Polis-Artikel “Grundlagen des idealistischen Sozialismus” wandte er sich gegen das vorherrschende “mechanistische” marxistische Denken vor allem in der deutschen Arbeiterbewegung: “Wissenschaftlich” nennt sich derjenige Sozialismus, der die kühne Unverfrorenheit besitzt, zu vergessen, dass der menschliche Wille mit eine der Kräfte ist, die als Quelle der Bewegung im Weltall zu betrachten sind. Wir haben die Auffassung, dass die Produktionsverhältnisse von den Menschen geschaffen wurden. Wohl ist es wahr, dass sie hinwiederum die Menschen beeinflussten, nie aber so stark, dass nicht noch ein kleiner oder grosser Rest Wille im Menschen geblieben wäre, der sich wehrte gegen die Vergewaltigung durch diese Produktionsverhältnisse. Und diesen Willen und nicht in erster Linie die Produktionsverhältnisse betrachten wir als den Hebel der künftigen Umwälzung der menschlichen Gesellschaft.
Der “idealistische Sozialismus” hingegen sollte zwar durchaus die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse aller Menschen anstreben, aber gleichzeitig, und nicht erst nach der Sozialisierung der Produktionsmittel … , und bewusst, alle ideellen Triebfedern im Menschen anregen.
Karl Lang bringt es in seiner Brupbacher-Biographie auf den Punkt: Einmal mehr zeigt sich, dass Brupbacher, der selbst nicht Arbeiter war, im Kapitalismus nicht in erster Linie materielle Ausbeutung sah, sondern psychische Degeneration. Im Zentrum stand für ihn eine Gefahr, die heute wohl noch aktueller ist als damals, dass nämlich “die vorwiegend nach materiellen Mitteln strebende Masse, sich selbst überlassen, zu einem fortlaufend mehr und mehr materiellen Wesen sich entwickelt”.
Interessant auch, wie er das Wesen eines wahren Intellektuellen zu definieren suchte:
Gewiss ist das Intellegere, Denken, ein Bestandteil, ein wichtiger Bestandteil der Seele des Intellektuellen. Aber nur ein Bestandteil, der den Intellektuellen charakterisiert insofern, als sein Denken ein reineres Denken ist als das des ökonomischen Menschen, seinem Gegenstück. Des ökonomischen Menschen, dessen Denken immer durch den Eigennutz beeinträchtigt ist. Aber dieses reine Intellegere macht den Intellektuellen noch nicht aus. Noch eines charakterisiert ihn, und das ist seine Energie. Seine Lebensfülle. Eine Energie, nicht angepasst an die bestehende Erwerbswelt. Eine Energie, die nicht ausgegeben werden kann in den konventionellen Formen, wie Energie heute ausgegeben wird. Der Intellekt des Intellektuellen ist ein umstürzlerischer Intellekt auf allen Gebieten des menschlichen Lebens.
Wer so denkt und lebt, kann sich gar nicht anders bewegen als immer wieder neu zwischen all den “Stühlen” festgefahrener Ideologien. Und es erklärt sein Aufbegehren gegen all die “Politikanten” einerseits und unselbständige Marx-Anbeter andererseits. Dazu mehr in der nächsten Folge
am Samstag, den 16. April
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