In der aktuellen Diskus­sion um das — vor dem Hin­ter­grund der schweiz­erischen Neu­tral­ität erlaubte oder nicht erlaubte — Engage­ment der Schweiz im Kampf der Ukraine gegen die mil­itärische Aggres­sion Rus­s­lands tauchen regelmäs­sig die Begriffe “inte­grale”, “dif­fer­en­tielle”, “aktive”, und sog­ar “wohlwol­lende” Neu­tral­ität auf.

Wer sich ein Bild über die Entwick­lung des Neu­tral­itäts­gedankens in der Eidgenossen­schaft und die erwäh­n­ten Begriffe machen möchte, wirft am besten einen Blick in die auf­schlussre­iche kleine EDA-Broschüre Die Neu­tral­i­taet der Schweiz . Und wer sich einen Überblick über den aktuellen Diskus­sion­s­stand zum The­ma “Neu­tral­ität und Ukraine” ver­schaf­fen will, find­et eine gute Zusam­men­fas­sung auf swissinfo.ch: Wie neu­tral ist die Schweiz wirklich?

Es war Alt-Bun­desrätin Miche­line Calmy-Rey, die sich während ihrer Amt­szeit immer wieder auf die Notwendigkeit ein­er “aktiv­en Neu­tral­ität” berief und dabei mehr als ein­mal aneck­te. Sie hat diesen Begriff aber nicht erfun­den, — und das bietet Gele­gen­heit, hier wieder ein­mal auf den “Vater” der Schweiz­erischen Bun­desver­fas­sung hinzuweisen: den Schweiz­er Poli­tik­er, Philosophen, Arzt und Päd­a­gogen Ignaz Trox­ler.

Trox­ler, der 1815 am Wiener Kongress teilgenom­men hat­te, an dem der Eidgenossen­schaft der Sta­tus der immer­währen­den Neu­tral­ität zuge­sprochen wurde, machte sich regelmäs­sig Gedanken dazu, was sie für den dama­li­gen frag­ilen Staaten­bund bedeutete. Er unter­schied als erster über­haupt eine “pas­sive” von ein­er “aktiv­en” Neu­tral­ität:

Wir hat­ten lange Zeit eine Neu­tral­ität, welche wir die unschuldige pas­sive nen­nen möcht­en (…) Allein diese ist nun ein­mal, wie alle Welt weiss, dahin, und wir denken davon, wie Ovid von der Jungfrauschaft singt: Deper­it illa semel! (Ein­mal ging sie ver­loren), — und bezog sich damit wohl auf das “Stille­sitzen” im Ancien Régime, wo die eid­genös­sis­chen Stände mit ihren Söld­nerverträ­gen in der europäis­chen Poli­tik zwar indi­rekt kräftig mit­mis­cht­en, sich aber anson­sten aus dem poli­tis­chen und religiösen Macht­pok­er der umliegen­den Reiche tun­lichst heraushielt.

Es gibt aber eine zweite Art von Neu­tral­ität, die mit der ersten in ihrer Wurzel eins ist, und welche wir die selb­ständi­ge, aktive nen­nen möcht­en. Dieses ist die Neu­tral­ität, welche wir erst wieder errin­gen sollen. Die hohen Ord­ner des vorhan­de­nen Zus­tandes von Europa haben zwar in dieser Hin­sicht gross­mütig uns gegeben, was sie uns geben kon­nten; sie haben uns aber nur gle­ich­sam den Rah­men, die äussere Ein­fas­sung zu unser­er Neu­tral­ität, ja nur eine äussere und zeitliche Bürgschaft für den inneren Bestand und die ewige Dauer der­sel­ben geben können. (…)

An uns ist es nun aber, da einem Volk von aussen nichts gegeben und nichts ver­sichert wer­den kann, was es nicht aus sich zu erzeu­gen und durch sich zu erhal­ten ver­mag, die ver­lorne Unschuld durch männliche Fas­sung und Hal­tung zu erset­zen, und nur durch selb­ständi­ge Tätigkeit, wie ehe­dem durch unser unab­hängiges Sein, die Neu­tral­ität selb­st aus unserem Staat­sleben zu entwick­eln. (…) Ein von aussen unab­hängiges und inner­lich selb­ständi­ges Volk ist im besten Sinne neu­tral. Die wahre Neu­tral­ität ist die Unbe­fan­gen­heit und Unver­let­ztheit des Freien, die auf Kraft­ge­fühl und Tätigkeit gerechter Frei­heit beruht. Aus dieser Quelle einzig und allein glauben wir die Neu­tral­ität ableit­en zu müssen, als der natür­lich­sten und nächsten.

Trox­ler warnte anschliessend vor den bei­den Zer­rfor­men ein­er gle­ichgülti­gen und teil­nahm­slosen, respek­tive sich den Machtver­hält­nis­sen kriecherisch anpassenden Neu­tral­ität und hielt fest:
Gle­ich fern von solch einem Ver­stock­en und solch einem Zer­fliessen ist die wahre Neu­tral­ität, ihrem inner­sten wahrsten Wesen nach, nichts anderes als die rein­ste, freiste, rück­sicht­slos­es­te und selb­st­bes­tim­mend­ste Leben­stätigkeit eines Volkes. Nicht Tätigkeit ver­nichtet Neu­tral­ität, son­dern ihre Rich­tung nach dem vergänglichen und man­nig­fachen Äusseren, der innere Abfall von sich selb­st. Je treuer ein Volk sein Selb­st­be­wusst­sein bewahrt, je weniger es seine ewige Bes­tim­mung ver­fehlt, desto neu­traler wird es sein. (sämtliche Auszüge aus “Mythos, Gemein­schaft, Staat. Ignaz Paul Vital Trox­ler. Geistiger und poli­tis­ch­er Erneuer­er der Schweiz. Eine Antholo­gie”. Beer-Ver­lag 2019)

Ein zen­traler Pfeil­er für diese “aktive Neu­tral­ität” war für Trox­ler das Asyl­recht, für das er sich 1833 im Grossen Rat des Kan­tons Aar­gau ein­set­zte, als sich nach der bru­tal­en Unter­w­er­fung des pol­nis­chen Auf­s­tands 1830/31 durch Rus­s­land ein pol­nis­ch­er Flüchtlingsstrom in die Schweiz ergoss.
Das Asyl­recht sei als Grund­satz «mit unser­er Ein­rich­tung und Geschichte innig verwach­sen, dass [...] mit ihm unser ganzes völk­er­rechtliche Ver­hält­nis und die wahre aktive Neu­tral­ität im innig­sten Zusam­men­hang ste­ht. [...] Dieser Grund­satz, die höch­ste Blüthe unser­er Neu­tral­ität, eine wahre Habeas­cor­pusak­te der Geis­ter und Gemüther [...] ist auch ein wahres Palla­dium unser­er eige­nen Würde, Frei­heit und Sicher­heit. (aus dem Welt­woche-Artikel “Die Blüthe der Neu­tral­ität” des His­torik­ers Pirmin Meier vom 24.3.2016)

Ist nun der Nachvol­lzug des wirtschaftlichen Embar­gos durch die EU und die USA (und vielle­icht sog­ar indi­rek­te Waf­fen­liefer­un­gen an die Ukraine) Aus­druck “des inneren Abfalls von sich selb­st”, oder ganz im Gegen­teil Aus­druck unseres wahren eid­genös­sis­chen Selbstbewusstseins?

Wir wollen diese Frage anhand des Buch­es “Die Neu­tral­ität. Zwis­chen Mythos und Vor­bild” von Miche­line Calmy-Rey weit­er ver­fol­gen, und dies wie immer

am näch­sten Don­ner­stag, den 23. Juni.

P.S. Wer wie der birsfaelder.li-Schreiberling noch nie etwas von “wohlwol­len­der Neu­tral­ität” gehört hat, hier eine Definition:
Man unter­schei­det die eigentliche Neu­tral­ität, die wohlwol­lende Neu­tral­ität, die Nichtkriegführung und den state short of war. In den let­zten drei Fällen bedeutet dies, dass der Nichtkriegführende einen Kriegführen­den unter­stützt, jedoch keine Kampfhand­lun­gen vorn­immt. Der nichtkriegführende Staat geht dabei das Risiko ein, wegen dieser „feindlichen Unter­stützung“ als Geg­n­er betra­chtet zu wer­den. (aus: wikibrief.org)

P.S. P.S.  Trox­ler war nicht nur ein Voll­blut-Poli­tik­er, der sich uner­müdlich für die Beteili­gung des Volkes bei der Neugestal­tung der Eidgenossen­schaft ein­set­zte, son­dern auch ein eigen­ständi­ger Philosoph. Der neue Rund­brief des Trox­ler-Vere­ins set­zt sich mit sein­er Philoso­phie auseinander.

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Mattiello am Mittwoch 22/24
Die Reichsidee 46

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