Bevor wir uns mit den ver­schie­de­nen Geschichts­bil­dern zur Ent­ste­hung der Schweiz und ihre Bezie­hung zu Euro­pa etwas ver­tief­ter aus­ein­an­der­set­zen kön­nen, soll­ten wir einen Blick auf das Hand­werks­zeug wer­fen, mit denen die ver­schie­de­nen Prot­ago­nis­ten arbei­ten, um uns das Wesen, Ziel und Zweck unse­res Staa­tes vorzustellen.

Für Fach­his­to­ri­ker besteht die­ses Hand­werks­zeug vor allem in der Fähig­keit, schrift­li­che Quel­len und in zwei­ter Linie archäo­lo­gi­sche Befun­de kri­tisch aus­zu­wer­ten, in einen grös­se­ren Zusam­men­hang zu stel­len und je nach Erkennt­nis­stand immer wie­der neu zu inter­pre­tie­ren und zu bewer­ten. Dar­aus fol­gert, dass ihr Geschichts­bild sich in ste­ti­ger Ent­wick­lung befindet.

Im Gegen­satz dazu ver­tritt die SVP ein sta­ti­sches Geschichts­bild mit ein paar fixen Schlag­wor­ten wie “Frei­heit”, “Unab­hän­gig­keit”, “kei­ne frem­den Rich­ter”, usw. Dass sie — wenn man das inof­fi­zi­el­le SVP-Sprach­rohr in Form des Köppel’schen Nach­rich­ten­blatts kon­sul­tiert — die­se “Frei­heit” durch­aus offen mit Bewun­de­rung und Ver­ständ­nis für Gestal­ten wie Donald Trump, Jair Bol­so­n­a­ro, Vik­tor Orban, Björn Höcke, Matteo Sal­vi­ni und Hans-Chris­ti­an Stra­che ver­bin­det, soll­te uns aller­dings hell­hö­rig machen.

Einen völ­lig ande­ren Ansatz ver­tritt C. Eng­lert-Faye als Ver­tre­ter eines anthro­po­so­phisch ori­en­tier­ten Geschichts­bil­des. Er bezieht sich dabei auf einen illus­tren Vor­läu­fer, näm­lich den Bas­ler Rechts­his­to­ri­ker, Alter­tums­for­scher und Anthro­po­lo­gen Johann Jakob Bacho­fen. Des­sen revo­lu­tio­nä­res Werk “Das Mut­ter­recht” brach­te eine völ­lig neue Dimen­si­on in die Geschichts­for­schung des 19. Jahrhunderts:
Nach­dem es anfangs auf hef­ti­ge Ableh­nung gesto­ßen war, fand das Werk spä­ter Beach­tung unter ande­rem durch Fried­rich Engels, Lewis Hen­ry Mor­gan, August Bebel, Edward Bul­wer-Lyt­ton, Lud­wig Kla­ges, Erich Fromm sowie C.G. Jung, und beein­fluss­te maß­geb­lich den moder­nen spi­ri­tu­el­len Femi­nis­mus sowie die moder­ne Matriarchatsforschung.

Bacho­fens Buch Das Mut­ter­recht ent­stand im Kon­text einer Alter­tums­wis­sen­schaft, die sich gera­de erst im moder­nen Sinn zu eta­blie­ren begann. Dabei lehn­te Bacho­fen jedoch die quel­len­kri­ti­sche Metho­de und empi­ri­sche Her­an­ge­hens­wei­se ab, wie sie ins­be­son­de­re durch Theo­dor Momm­sen ver­tre­ten wur­de, und berief sich für sein Werk auf intui­ti­ve Ana­ly­sen von Mytho­lo­gie sowie empa­thi­sche Ein­füh­lung. (Wiki­pe­dia). Was das bedeu­tet, wird spä­ter noch zu klä­ren sein.

Begin­nen wir mit den Aus­füh­run­gen zwei­er aktu­el­ler hel­ve­ti­scher His­to­ri­ker zu ihrem Geschichtsbild:
Kurt Mess­mer macht schon mit dem Titel sei­nes Buches “Die Kunst des Mög­li­chen. Zur Ent­ste­hung der Eid­ge­nos­sen­schaft im 15. Jahr­hun­dert” deut­lich, dass er mit dem Bun­des­brief von 1291 als eher­ne Grün­dungs­ur­kun­de nicht viel anzu­fan­gen weiss:
Die Fixie­rung auf 1291 ent­spricht dem For­schungs­stand am Ende des 19. Jahr­hun­derts. Doch selbst im Rah­men der 700-Jahr-Fei­er der Eid­ge­nos­sen­schaft im Jah­re 1991 wur­de die­se über­hol­te Vor­stel­lung von offi­zi­el­ler Sei­te unbe­se­hen über­nom­men und bekräf­tigt. Nach wie vor wird sie an jedem Natio­nal­fei­er­tag tie­fer ver­an­kert. Dabei ist sich die Fach­ge­mein­de der His­to­ri­ker einig: Die ent­schei­den­de Pha­se auf dem Weg zur Eid­ge­nos­sen­schaft war das 15. Jahrhundert. …

Fried­rich Schil­lers Frei­heits­dra­ma Wil­helm Tell endet mit dem Schluss­satz von Rudels: “Und frei erklär ich alle mei­ne Knech­te”. Die­ser ver­söhn­li­che Schluss wider­spricht der his­to­ri­schen Sach­la­ge dia­me­tral. Arti­kel 3 im Land­frie­dens­bünd­nis von 1291 hielt fest, jeder sol­le sei­nem Herrn nach sei­nem Stan­de die­nen, wie es sich gehö­re. Das war nicht revo­lu­tio­när, son­dern restau­ra­tiv. Wer befahl, befahl wei­ter­hin, wer gehorch­te, soll­te wei­ter­hin gehor­chen. Unter­ta­nen blie­ben Untertanen. …

Im Mit­tel­al­ter war eine all­ge­mei­ne, umfas­sen­de Frei­heit undenk­bar. Frei sein bedeu­te­te immer nur: frei von etwas, befreit von einer Abga­be, einem Fron­dienst, einem Zoll. 1291 darf nicht ver­wech­selt wer­den mit 1789. …
Spricht man im Zusam­men­hang mit den Anfän­gen der Eid­ge­nos­sen­schaft von einer “Grün­dung”, legt das nahe, es habe damals einen weit­sich­ti­gen staats­po­li­ti­schen Grün­dungs­akt gege­ben. Bereits 1291 sei im Keim ange­legt gewe­sen, was sich über Jahr­hun­der­te hin­weg ent­fal­ten sollte. … 

Dem­entspre­chend stell­te man die Eid­ge­nos­sen­schaft am Ende des 19. Jahr­hun­derts als kräf­ti­gen Baum dar. 1291 reprä­sen­tier­te die Wur­zel, 1848 die Kro­ne. Die­ses natur­wüch­si­ge Bild war und ist ein­gän­gig, aber unhalt­bar, weil es aus­blen­det, was stört.
Geschich­te ist ein offe­nes Feld. Indi­vi­du­en und Gesell­schaf­ten haben Hand­lungs­spiel­räu­me. Wie so oft hät­te auch die Ent­wick­lung der frü­hen Eid­ge­nos­sen­schaft einen ande­ren Ver­lauf neh­men kön­nen. Ihr Weg war weder vor­her­be­stimmt noch auf lan­ge Sicht planbar.

War­um aber hält sich dann das über­hol­te Geschichts­bild voll heroi­scher Taten im Kampf um Frei­heit bis heu­te so hartnäckig?

Guy P. Mar­chal gibt in sei­nem Buch “Schwei­zer Gebrauchs­ge­schich­te. Geschichts­bil­der, Mythen­bil­dung und natio­na­le Iden­ti­tät” — einem dicken Wäl­zer von 550 Sei­ten — dar­auf im Vor­wort fol­gen­de Antwort:
Die­ses Buch han­delt von Gebrauchs­ge­schich­te. Es geht um eine beson­de­re Art des Umgangs mit Geschich­te, bei dem sie — man könn­te sagen — wie ein Gebrauchs­ge­gen­stand benutzt wird. Ein Gebrauchs­ge­gen­stand, der schon bei sei­ner Ent­ste­hung im Hin­blick auf eine Ziel­set­zung und Ver­wen­dung geformt wird, spä­ter­hin immer wie­der und auch für ande­re Zwe­cke zur Ver­fü­gung steht und nur des­halb nicht weg­ge­wor­fen wird, weil er fort­wäh­rend und viel­fäl­tig — und sei dies schliess­lich auch nur mehr als Deko­ra­ti­on benutzt wer­den kann. Gebrauchs­ge­schich­te ist jene Geschich­te, die immer wie­der zum Ein­satz kommt, um eige­ne Posi­tio­nen his­to­risch zu legitimieren.

Gebrauchs­ge­schich­te par excel­lence ist etwa jene, die der natio­na­len Iden­ti­tät dient, sei es als Natio­nal­ge­schichts­schrei­bung, die dem Staat eine ziel­ge­rich­te­te Ent­wick­lungs­ge­schich­te hin zum aktu­el­len Zustand ver­passt, um die­sen his­to­risch zu begrün­den; sei es in Form all­ge­mei­ner his­to­ri­scher Vor­stel­lun­gen und im Bewusst­sein leben­di­ger Geschichts­bil­der, die das Selbst­wert­ge­fühl, das Bewusst­sein einer natio­na­len Iden­ti­tät stüt­zen und fördern.

Die­se Gebrauchs­ge­schich­te wird immer wie­der auch von unter­schied­lichs­ten Grup­pie­run­gen und gegen­sätz­lichs­ten Par­tei­en für deren Inter­es­sen instru­men­ta­li­siert, in der Argu­men­ta­ti­on ein­ge­setzt, um den eige­nen Stand­punkt natio­nal zu ver­an­kern und ihm gleich­sam eine «natio­na­le Beglau­bi­gung» zu ver­schaf­fen. Dabei wer­den die in der Gebrauchs­ge­schich­te ent­hal­te­nen Inhal­te und Bil­der nach den aktu­el­len Bedürf­nis­sen und ver­folg­ten Zwe­cken immer neu akzen­tu­iert und gedeutet. …

Ihre Bedeu­tung hängt nicht davon ab, dass sie “rich­tig” wäre oder ihr “His­to­ri­zi­tät” zukom­men wür­de oder eben nicht, son­dern allein davon, dass sie, wie auch immer wir es wen­den, kon­ti­nu­ier­lich gebraucht wird. Es kann also nur dar­um gehen zu ver­ste­hen, wie und war­um die­se Gebrauchs­ge­schich­te ent­stan­den ist, wie sie funk­tio­niert und ihre Wir­kung erzielt.

Und mit einem klei­nen Sei­ten­blick auf eine bestimm­te poli­ti­sche Par­tei fügt er hin­zu: … manch­mal erwei­sen Geschichts­bil­der sich schlicht als Trug­bil­der mit gefähr­li­chen Ori­en­tie­rungs­an­ge­bo­ten. Der Sinn der Erfor­schung von Geschichts­bil­dern liegt gera­de dar­in, den Blick zu schär­fen für ihre ver­füh­re­ri­sche Dis­po­ni­bi­li­tät und dafür, dass Gebrauchs­ge­schich­te bis­wei­len — je nach Stand­punkt — miss­braucht wer­den kann.

Dafür, dass natio­na­le Mythen ein höchst eigen­stän­di­ges Leben ent­wi­ckeln kön­nen, gibt es kein bes­se­res Bei­spiel als die jahr­hun­der­te­lan­ge Kar­rie­re unse­res Hel­den Wil­helm Tell. Aber gera­de die­se ein­drück­li­che Tat­sa­che macht auch deut­lich, dass in sol­chen Mythen Kräf­te wirk­sam sind, die — Gebrauchs­ge­schich­te hin oder her — im Unter­grund geschichts­mäch­tig wir­ken und gesell­schaft­li­che Ent­wick­lungs­pro­zes­se in Gang zu set­zen vermögen.

Mit die­ser Ein­sicht betre­ten wir das Ter­rain von Con­rad Eng­lert-Faye. Sei­nem Geschichts­bild ist die nächs­te Fol­ge am 22. Juni gewidmet.

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