Dass Genf zur Schweiz gehört, lernt heute jedes Kind in der Primarschule. Dass Genf heute dank dem Sitz diverser internationaler Organisationen in der “grossen Politik” eine wichtige Rolle spielt, ist auch in der Deutschschweiz allgemeines Wissensgut. Man weiss, dass die Namen geschichtlich bedeutsamer Persönlichkeiten wie Jean Calvin oder Jean Jacques Rousseau untrennbar mit der Stadt am Lac Léman verbunden sind. Vielleicht kennt jemand sogar das Volksfest “L’Escalade” am 12. Dezember, an dem die erfolgreiche Verteidigung der Stadt gegen einen savoyardischen Eroberungsversuch 1602 gefeiert wird.
Aber wenn es um etwas konkreteres geschichtliches Wissen geht, wie Genf überhaupt zur Eidgenossenschaft stiess, herrscht in der Regel eine gähnende Leere. Und das ist schade, — nicht nur, weil so vergessen geht, wie intensiv das Schicksal des damaligen helvetischen Staatenbundes in die Politik der europäischen Grossmächte verflochten war, sondern weil auch Leben und Wirken einer für die weitere Entwicklung der Eidgenossenschaft wichtigen Persönlichkeit in der Deutschschweiz praktisch unbekannt geblieben ist.
Die Rede ist von Charles Pictet de Rochemont (1755 — 1824). Das birsfaelder.li möchte diese eindrückliche Gestalt deshalb etwas dem Vergessen entreissen. Wer sich schon mal in Kürze ein Bild seines Lebens machen will, findet im Historischen Lexikon der Schweiz einen kurzen Abriss. Wer Pictet de Rochemont etwas vertiefter kennenlernen möchte, sei herzlich eingeladen weiterzulesen.
Genf war, bevor es 1798 von Frankreich annektiert wurde, eine stolze Stadtrepublik, verbündet mit den beiden eidgenössischen Städten Bern und Zürich. 1813 besetzten österreichische Truppen die Stadt, worauf erneut die Unabhängigkeit der Stadtrepublik ausgerufen wurde. Doch schon bald machte sich die Überzeugung breit, dass angesichts der neuen politischen Lage die Zukunft eines alleinstehenden Genfs höchst unsicher sei und eine definitive Eingliederung in den eidgenössischen Staatenbund die sinnvollste Option wäre.
Aber da gab es ein paar Hürden zu überwinden:
● Nach dem Rückzug der napoleonischen Mediationsverfassung wurden die Eidgenossen erneut zu einem zerstrittenen Haufen mit höchst unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wohin der Weg in die Zukunft gehen sollte.
● Genf war protestantisch und grösser als Bern und Zürich. Würde sein Beitritt nicht das labile konfessionelle Gleichgewicht und dasjenige zwischen Stadt und Land massiv stören?
● Die Stadt war durch französisches und savoyardisches Gebiet von der Eidgenossenschaft abgeschnitten. Genf als eidgenössische Enklave bot keine sichere Perspektive.
● Gesetzt den Fall, dass die Grossmächte Genf Verbindungsgebiete zu den Eidgenossen zugestehen würden, wie als calvinistische Polis umgehen mit der Tatsache, dass die ländlichen Gebiete rund um die Stadt alle katholisch waren?
Hier kommt Charles Pictet de Rochemont ins Spiel. Doch werfen wir zuerst einen kurzen Blick auf seinen Werdegang.
Er stammte aus einer Familie mit militärischer Tradition: Sein Vater kommandierte ein Schweizer Regiment in den Niederlanden und schickte seinen dreizehnjährigen Sohn in ein Internat in Chur, wo er Deutsch, Französisch und Englisch lernte, — was ihm später für seine diplomatische Tätigkeit sehr zugute kommen sollte. 20-jährig trat er als Offizier eines Schweizer Regiments im Dienste Frankreichs in die Fussstapfen seines Vaters. 1788 wurde er in Genf als Mitglied des “Conseil des Deux-Cent” politisch aktiv. Als 1792 in Genf im Nachgang zur Französischen Revolution ebenfalls eine Revolution ausbrach, nahm er zusammen mit seinem Bruder am neuen “Nationalkonvent” teil, zog sich aber angesichts der revolutionären Exzesse nach wenigen Monaten aus der Politik auf das landwirtschaftliche Gut seiner Familie zurück und wurde publizistisch tätig:
Neben einer Studie zur amerikanischen Revolution — “Tableau des Etats-Unis d’Amérique” — gründete er zusammen mit seinem Bruder Marc Auguste die Zeitschrift “La Bibliothèque britannique”, in der einem europäischen Publikum die angelsächsischen wissenschaftlichen Entdeckungen, die Literatur, die politischen Ideen und die fortschrittliche Agrikultur jenseits des Kanals vorgestellt werden sollte.
Eine direkte Anwendung davon war die Idee, auf seinem Gut Marinoschafe mit ihrer hochwertigen Wolle zu züchten. Der Erfolg war so gross, dass er 1809 für die erweiterte Züchtung von Zar Alexander eine Konzession über 13’000 Hektaren bei Odessa erwarb und seinen ältesten Sohn mit 900 Schafen zu Fuss auf den langen Wege schickte!
Dass er sich auch Gedanken über das Wesen des Menschen und zu einer rechten Lebensführung machte, davon zeugt diese Überlegung in seinem Vorwort zur Übersetzung des Buches “Natural Theology” von William Paley:
Die Vernunft des Menschen, isoliert von den Fähigkeiten der Seele und der Vorstellungskraft, ist kein Führer, der bei der Suche nach bestimmten Wahrheiten weit führen kann. Wir sind nicht dazu berufen, das Rätsel des Lebens allein mit dem Verstand zu erklären. Und das Herz des aufrechten Menschen führt ihn mit viel größerer Sicherheit zu den wichtigsten Wahrheiten als die Vernunft des feinsinnigen Menschen.
Die Parallelen zur Gedankenwelt Emersons sind unübersehbar.
In der nächsten Folge wenden wir uns der eminent wichtigen politischen Tätigkeit Pictet de Rochemonds für die Eidgenossenschaft zu, und dies wie immer
am kommenden Donnerstag, den 6. Januar.
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