Das Söldnerwesen in der Alten Eidgenossenschaft ist im geschichtlichen Bewusstsein der Bevölkerung fest verankert und auch Thema im Geschichtsunterricht. Die Reisläufer waren aber nicht die einzigen Eidgenossen, die ihre Heimat für eine bestimmte Zeitspanne oder sogar für immer verliessen. Doch von ihnen wird kaum gesprochen.
André Holenstein spricht von ziviler Arbeitsmigration, und erklärt, warum sie im Gegensatz zur Reisläuferei keine prominente Erinnerungstradition zu stiften vermochte, denn sie war
… kein Massenphänomen, sondern das unspektakuläre Werk von Einzelpersonen und kleinen Gruppen. Zivile Arbeitsmigranten waren vielfach als Spezialisten und Experten ihres Metiers unterwegs und fanden dank ihren handwerklichen und gewerblichen Fertigkeiten, ihres künstlerischen Talents, ihres Wissens oder ihren pädagogischen und kulturellen Kompetenzen ein Auskommen im Ausland.
Die Weltläufigkeit und hohe Anpassungsfähigkeit dieser zivilen Arbeitsmigranten korrigieren verbreitete Vorstellungen: Zum einen widerlegen sie das Stereotyp einer ländlich-bäuerlichen, schollenverhafteten und wenig mobilen Schweiz, und zum anderen hinterfragen sie besonders die Vorstellung einer Bergwelt, in der die Menschen fernab von den dynamischen gesellschaftlichen Zentren und kulturellen Brennpunkten ein eingezogenes, bescheidenes Leben in den Bahnen der immer gleichen Gewohnheiten fristeten.
Diese Tatsache illustriert Holenstein mit interessanten und eindrücklichen Beispielen:
● Schon mal von den Bündner Zuckerbäckern gehört? — Ihr Ursprung liegt in einem Bündnis mit Venedig aus dem Jahre 1603, das es den Bündner erlaubte, sich in der Stadt als Gewerbetreibende niederzulassen. Dort spezialisierten sie sich auf das Gewerbe mit Kaffee und Backwaren. Als Venedig 1766 die Bündner Handels- und Gewerbeprivilegien aufhob, mussten 3000 Bündner Kaufleute und Gewerbetreibende die Stadt verlassen.
Im Bündnerland gab es weder grössere Städte noch Kaffeehäuser. So wanderten die ausgewiesenen Bündner mit grossem Erfolg nach Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn, Polen und bis nach Russland aus.
Die Gewerbetreibenden in der Fremde zogen junge Landsleute und Verwandte als Lehrlinge nach. Sie heirateten Bündnerinnen, schickten ihre Kinder zur Ausbildung in die Schweiz und kehrten bisweilen als erfolgreiche Unternehmer nach Graubünden zurück, wo sie sich in repräsentativen Alterssitzen niederliessen, politische Ämter in Gemeinde und Kanton übernahmen oder als Pioniere im aufstrebenden Tourismus aktiv wurden.
● Eine intensive Arbeitsmigration Richtung Italien lässt sich auch in den südlichen Alpentälern beobachten. Gepäckträger, Hutmacher, Kaminfeger und Bauarbeiter fanden in Mailand, Genua, Livorno, Pisa und in der Toscana ihr Auskommen. Sie hielten sich jeweils ein halbes Jahr in der Fremde auf und kehrten dann in ihre Dörfer zurück. Schokoladefabrikanten und ‑händler sowie Marronibrater setzten ihre Waren in Oberitalien, Frankreich, England, Holland und Deutschland ab.
Lisa Tetzner hat den jugendlichen Kaminfegern aus dem Tessin übrigens mit ihrem berührenden Roman “Die Schwarzen Brüder” ein literarisches Denkmal gesetzt.
In Wien etablierte sich eine eigentliche Kaminfegerdynastie aus dem Misox: Die in Wien lebenden Kaminfeger aus dem Misox standen in regem Austausch mit ihren Familien zu Hause. Das Beziehungs- und Kommunikationssystem funktionierte über die weite Entfernung in beide Richtungen. Es etablierte sich eine langfristig stabile Migrationstradition innerhalb eines Dorfes oder gar innerhalb derselben Familie.
● Aus den Tessiner und Bündnertälern wanderten auch hochqualifizierte Baumeister, Maler, Bildhauer, Steinmetzen und Bauarbeiter aus, die schon im Mittelalter auf den grossen Baustellen italienischer Städte zu finden waren, später auch in Deutschland, Schweden, Böhmen, Polen und in Russland.
Im Rhythmus von Auszug und Rückkehr entstanden enge Beziehungen zwischen den Bauherren in Italien und den Baufachleuten aus den südalpinen Tälern. Die Verbindungen der Wanderer zu ihren Dörfern blieben bestehen, sodass die heimatliche Verwandtschaft und Nachbarschaft über die Jahrhunderte hinweg das wichtigste Reservoir für die Rekrutierung und Ausbildung junger Facharbeiter bildeten. Auf diese Weise entstanden eigentliche Dynastien von Baufachleuten, die über Generationen hinweg auf bedeutenden Bauplätzen des Auslands anzutreffen waren.
Interessant, wie sie ihren unternehmerischen Erfolg über grössere Zeiträume hinweg sicherten. Sie gründeten nämlich eigentliche Konsortien, die alle anstehenden Arbeiten auf grossen Baustellen erledigten. Der Baumeister übernahm die Leitung des Bauplatzes und brachte die Spezialisten zusammen, die er für die verschiedenen Bauetappen benötigte: Steinmetzen, Maurer, Maler, Bildhauer, Stuckateure. Die gemeinsame Herkunft und die Zusammenarbeit auf den Baustellen begründeten die korporative Organisation dieser in hohem Grad arbeitsteiligen Unternehmungen. Mit dem Zusammenschluss zu Gesellschaften und Bruderschaften wahrten die Baufacharbeiter ihre Rechte und Interessen gegenüber Bauherren und lokalen Behörden und leisteten sich Hilfe in materieller Not, bei Krankheit oder Tod in der Fremde.
Doch wie stand es mit der Arbeitsmigration nördlich der Alpen?
Dazu mehr am kommenden Donnerstag, den 21. Oktober!
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