Am letzten Samstag loderten in allen 26 Kantonen der Schweiz Höhenfeuer. Normalerweise sind sie vielerorts Bestandteil unseres Nationalfeiertags am 1. August. Doch diesmal verkündeten sie etwas anderes, nämlich nichts Geringeres als den “historischen Durchbruch für eine weiterhin freie Schweiz”, besungen und gefeiert von jener Partei, die schon mit ihrem Namen deutlich macht, dass sie sich als die wahre Vertreterin des Volkes versteht.
Eigentlich brannte auch in Herrliberg ein Feuer, aber die SVP-Granden zog es dorthin, wo sich die “echtesten Eidgenossen” finden: in den Kanton Schwyz.
“Lanciert wurde die Aktion in Morschach SZ. In unmittelbarer Nähe zur Rütli-Wiese traten dort am Samstagabend SVP-Parteipräsident Marco Chiesa, alt Bundesrat Christoph Blocher und der Zürcher SVP-Nationalrat Roger Köppel auf.
Ein Abkommen mit der EU hätte die Schweiz fremdem Recht und fremden Richtern unterworfen, stellte Chiesa laut schriftlichem Redetext fest. Die nach Parteiangaben in allen 26 Kantonen entfachten Feuer seien ein Zeichen jener Freiheit und Unabhängigkeit, die die Schweiz ausmache.” (swissinfo.ch)
«Wir haben diesen herrlichen Ort in den Bergen ganz bewusst gewählt», erklärte Blocher vor mehreren hundert begeisterten Anhängern. «Von hier hat man einen wunderschönen Blick auf das Rütli, wo alles begonnen hat.» Auch Köppel und Chiesa beschworen die Magie der «Wiege der Eidgenossenschaft», die allerdings nicht bei allen SVPGewaltigen derart hoch im Kurs steht. So hatte Bundesrat Ueli Maurer das Rütli 2007 als «Wiese mit Kuhdreck» bezeichnet.
… Tatsächlich scheint die wahre Schweiz zumindest für die alte Garde der Zürcher SVP rund um den Vierwaldstättersee und nicht im eigenen Kanton zu liegen. Obwohl auch in Herrliberg eines der 26 Feuer entzündet wurde, zog es auch die Alt-Nationalräte Christoph Mörgeli, Walter Frey und Ulrich Schlüer an den Fuss des Fronalpstocks, wo man sich mit dem «wahren Volk» traf.” (nzz online, 27.6.21)
Kein Zweifel, die SVP “krallt sich die Schweiz”. Dass ihr Patriotismus allerdings auf mindestens einem Auge blind ist, darauf hat Redaktionskollege Franz Büchler immer wieder mal hingewiesen, z.B. hier.
In der restlichen politischen Schweiz herrscht zurzeit keine Hochstimmung, sondern ganz im Gegenteil die grosse Ratlosigkeit und das Gefühl, sich in einer Sackgasse zu befinden. Das hat durchaus seine Berechtigung. Sowohl die Schweiz wie auch die EU befindet sich nach der Covid-Krise auf ziemlich unsicherem Terrain. Und es stellen sich Fragen zu Begriffen, die wir regelmässig verwenden, obwohl jede/r darunter mit Sicherheit etwas anderes versteht, z.B. zu “Freiheit”.
Die SVP verwendet die Begriffe “Schweiz” und “Europa” als statische und antagonistische Grössen: Hie der “Hort der Freiheit”, dort “die fremden Richter”, hie “die Guten”, dort “die Bösen”.
Allerdings ist einem auch nur halbwegs wachen Zeitgenossen klar, dass die einzig legitime “Partei des Volkes” damit Schlangenöl verkauft, — und sie hat damit sogar regelmässig Erfolg. Dabei ist die Beziehung zwischen der Schweiz und Europa über die Jahrhunderte hinweg sehr viel komplexer — und auch faszinierender! — als es eine populistische Demagogie wahrhaben will.
Kompetente Historiker wie Ulrich Im Hof, Josef Lang, Guy P. Marchal, Thomas Maissen, Georg Kreis, Kurt Messer, Urs Altermatt oder André Holenstein — um nur einige zu nennen — haben seit Längerem ein differenziertes Bild der Interaktionen auf verschiedensten Ebenen zwischen dem kleinen Gebilde im Herzen Europas und den umliegenden Mächten gezeichnet.
Das birsfaelder.li wird diesen Wechselbeziehungen in der nächsten Zeit in einer lockeren Folge etwas nachgehen in der Hoffnung, so wenigstens lokal einen kleinen Kontrapunkt zu einer demagogischen und weitgehend sinnentleerten Schlagwort-Politik zu setzen, die heute oft zu dominieren scheint.
Und hier geht es gleich zur nächsten Folge.
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