Wäh­rend Kant am Ide­al einer Welt­re­pu­blik fest­hielt, gleich­zei­tig aber an deren Rea­li­sie­rung zwei­fel­te, exis­tier­te für Hegel das Völ­ker­recht … nur als Ver­trags­sys­tem sou­ve­rä­ner Staa­ten, weil in der geschicht­li­chen Wirk­lich­keit die Sou­ve­rä­ni­tät der Staa­ten … das höchs­te Prin­zip auf Erden sei. (…) Wegen der je beson­de­ren Wil­len der Staa­ten kön­ne es kei­ne all­ge­mein aner­kann­te und ver­bind­li­che obers­te recht­spre­chen­de Instanz geben. Viel­mehr sei die Geschich­te selbst als Ablauf von Krie­gen und Ver­trä­gen selbst die­ses Welt­ge­richt, des­sen Inhalt gleich­wohl — hin­ter dem Rücken der Akteu­re — ein his­to­ri­scher Fort­schritt im Bewusst­sein der Frei­heit sei. (…)
Sei­ne Rechts­phi­lo­so­phie wur­de so gewis­ser­mas­sen zum Grün­dungs­do­ku­ment einer “Real­po­li­tik”, die in der staat­li­chen Sou­ve­rä­ni­tät die höchs­te Macht auf Erden erkennt und sie als legi­tim aner­kennt.
In der Fol­ge gehör­te im 20. Jahr­hun­dert dann für den Staats­recht­ler Carl Schmitt die Plu­ra­li­tät zum Begriff des Staa­tes über­haupt, sodass die For­de­rung eines ein­heit­li­chen Welt­staats nicht nur wirk­lich­keits­fremd, son­dern auch in sich selbst wider­spre­chend sei.
(Sämt­li­che Aus­zü­ge aus Alex­an­der von Pech­mann, Die Eigen­tums­fra­ge im 21. Jahrhundert)

(Klam­mer­be­mer­kung: Carl Schmitt dürf­te der umstrit­tens­te Staats­recht­ler des 20. Jahr­hun­derts sein, bekannt und berüch­tigt für sei­ne höchst akti­ve Rol­le im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land, für sei­ne Behaup­tung, dass sich poli­ti­sche Hand­lun­gen und Moti­ve auf die Unter­schei­dung von Freund-Feind zurück­füh­ren las­sen — “Die Höhe­punk­te der gro­ßen Poli­tik sind zugleich die Augen­bli­cke, in denen der Feind in kon­kre­ter Deut­lich­keit als Feind erkannt wird” — und für sei­ne Befür­wor­tung einer auto­ri­tär geführ­ten “Demo­kra­tie”: Sou­ve­rän ist, wer über den Aus­nah­me­zu­stand ent­schei­det)

Mit Kant und Hegel ste­hen sich seit­her zwei gegen­sätz­li­che Ver­nunft­po­si­tio­nen gegen­über, die die Debat­te um den Sou­ve­rä­ni­täts­ver­zicht bis heu­te prä­gen. Wäh­rend die eine im Behar­ren der Staa­ten auf ihrer Sou­ve­rä­ni­tät einen wider­ver­nünf­tig irra­tio­na­len Wil­len wal­ten sieht, der sich dem Gebot der Ver­nunft, in eine Welt­re­pu­blik zu tre­ten, erfolg­reich wider­setzt (Kant), erkennt die ande­re gera­de in die­sem Behar­ren der Staa­ten einen sub­stan­zi­el­len und ver­nünf­ti­gen Wil­len. (Hegel). Einer ein­heit­li­chen kos­mo­po­li­ti­schen Ver­nunft, die die Indi­vi­dua­li­tät der Staa­ten zu über­win­den trach­tet (Kant), steht eine plu­ra­le inter­na­tio­na­le Ver­nunft gegen­über, die die­se Indi­vi­dua­li­tät als not­wen­dig aner­kennt (Hegel).

Doch trotz ihrer Gegen­sätz­lich­keit ver­bin­det bei­de Kon­zep­te ein gemein­sa­mes Anlie­gen. Bei­de gehö­ren sie dem Zeit­al­ter der Auf­klä­rung an. Wäh­rend für Kant die Auf­klä­rung als Aus­tritt aus selbst­ver­schul­de­ter Unmün­dig­keit jedoch ein noch unvoll­ende­tes Pro­jekt war, das ihr letz­tes Ziel ein einer künf­ti­gen “Repu­blik von Repu­bli­ken” fin­den soll­te, war sie eine Genera­ti­on spä­ter für Hegel im Wesent­li­chen abge­schlos­sen. Hegel konn­te daher im Unter­schied zur Kant das “Ende der Geschich­te” aus­ru­fen, weil das gemein­sam Erstreb­te, die Gel­tung des Rechts, in der bestehen­den Staa­ten­welt wirk­lich gewor­den war. Im moder­nen Natio­nal­staat sei­en die Grund­sät­ze der Auf­klä­rung Wirk­lich­keit und der Sou­ve­rä­ni­täts­ver­zicht der Staa­ten damit über­flüs­sig geworden.

Doch heu­te geht es, wie von Pech­mann zu Recht betont, nicht mehr um Befrei­ung und Aner­ken­nung der Indi­vi­du­en und Staa­ten als auto­no­mer und und gleich­wer­ti­ger Rechts­per­so­nen, wie sie für die Jahr­hun­der­te der Auf­klä­rung bestim­mend war, son­dern schlicht­weg um die Erhal­tung der Lebens­be­din­gun­gen für die künf­ti­gen Genera­tio­nen der Mensch­heit. (…) Die Grün­de für den Sou­ve­rä­ni­täts­ver­zicht der Natio­nen kön­nen daher nicht mehr allein im Pos­tu­lat einer rei­nen prak­ti­schen Ver­nunft gefun­den wer­den. (…) Was … heu­te als ein ver­nünf­ti­ger Grund für den Sou­ve­rä­ni­täts­ver­zicht der Staa­ten gilt, kann sich nicht allein an den zeit­lo­sen Prin­zi­pi­en der Mora­li­tät bemes­sen, son­dern muss die Mensch­heits­pro­ble­me der Gegen­wart, die zuneh­men­de Gefähr­dung des Pla­ne­ten in öko­lo­gi­scher Hin­sicht sowie die wach­sen­de Sche­re zwi­schen der rei­chen und armen Welt in sozia­ler Hin­sicht, grund­le­gend einbeziehen. 

Aus­ge­hend von die­ser nicht mehr weg­zu­dis­ku­tie­ren­den Tat­sa­che der sich Jahr für Jahr ver­stär­ken­den glo­ba­len Kri­sen macht von Pech­mann in sei­nem Argu­men­ta­ri­um einen radi­ka­len Schritt:
Unter den Bedin­gun­gen einer solch umfas­sen­den Ver­nunft, die das Erdgan­ze vor Augen hat, wol­len wir nun nicht wei­ter­hin nach Grün­den suchen, die den Sou­ve­rä­ni­täts­ver­zicht zur Fol­ge haben müs­sen. Wir wol­len viel­mehr die Beweis­last umkeh­ren und fra­gen, ob es heu­te noch gute Grün­de gibt, auf den Sou­ve­rä­ni­täts­ver­zicht zu ver­zich­ten. (…) In die­ser gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on müss­te dem­nach mit Grün­den ein­sich­tig gemacht wer­den, war­um allein auf Grund­la­ge der Bei­be­hal­tung des völ­ker­recht­li­chen Sou­ve­rä­ni­täts­prin­zip — und damit unter den Bedin­gun­gen der gegen­sätz­li­chen Inter­es­sen der mäch­ti­gen und ohn­mäch­ti­gen, der rei­chen und der armen, der umwelt­be­las­ten­den und ‑ver­träg­li­chen Natio­nen — ein Erfolg ver­spre­chen­der Weg beschrit­ten wer­den kann, um die gemein­sa­men Zie­le zu errei­chen, zu der die Natio­nen sich durch ihren Ein­tritt in die Ver­ein­ten Natio­nen ver­pflich­tet haben.

Das apo­dik­ti­sche Urteil von Pech­manns: Eine sol­che Begrün­dung ist jedoch nicht mög­lich. Denn solan­ge der Sou­ve­rä­ni­täts­vor­be­halt gilt, solan­ge also jeder Staat zu den gemein­sa­men Zie­len nur dann und in dem Mas­se bei­trägt, wie es dem eige­nen natio­na­len Inter­es­se ent­spricht, solan­ge bleibt offen und unge­klärt, wie das glo­ba­le Sys­tem der Inbe­sitz­nah­me der Erde, der Pro­duk­ti­on, Dis­tri­bu­ti­on und Kon­sum­ti­on der Güter, so gestal­tet wer­den kann, dass es den Zie­len des Welt­frie­dens, der sozia­len Ver­träg­lich­keit der Ver­tei­lung und der öko­lo­gi­schen Nach­hal­tig­keit der Pro­duk­ti­on und Kon­sum­ti­on genügt. Die­se Gestal­tung wäre allein unter der Vor­aus­set­zung mög­lich, dass das Inter­es­se jedes ein­zel­nen Staa­tes am Wohl der eige­nen Nati­on zugleich mit dem Inter­es­se der Mensch­heit am Wohl der gegen­wär­ti­gen wie künf­ti­gen Genera­tio­nen über­ein­stimmt. In die­sem äus­serst unwahr­schein­li­chen Fall der Über­ein­stim­mung aber wäre das Sou­ve­rä­ni­täts­prin­zip nicht mehr erforderlich.

Ein kur­zer Blick auf das aktu­el­le poli­ti­sche Welt­ge­sche­hen führt uns dras­tisch vor Augen, dass die Chan­ce die­ses “äus­serst unwahr­schein­li­chen Falls der Über­ein­stim­mung” gegen Null strebt. Womit wir wie­der bei den am Schluss die­ser Fol­ge for­mu­lier­ten Fra­gen stehen …

Die nächs­te Fol­ge wie immer am kom­men­den Frei­tag, den 29. Juli.

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Mattiello am Mittwoch 23/29
Christentum und Gnosis 2

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