Man mache sich keine falschen Vorstellungen: Was von Pechmann mit der kleinen semantischen Änderung vom “sollen” zum “müssen” bewirken will, ist schlechterdings revolutionär, aber revolutionär im besten Sinne. Vielleicht wäre der Begriff “evolutionär” besser angebracht, indem der Staat nicht völlig umgebaut oder gar zerstört, sondern ihm eine neue Rolle zugedacht wird, die der Errichtung einer gerechten Gesellschaftsordnung dient. Er hat neu dafür zu sorgen, dass ein umweltzerstörender neoliberaler, auf Egoismus basierender Kapitalismus zurückgebunden wird:
Dem Staat als anerkanntem Diener des Allgemeinwohls kommt … die Entscheidungsbefugnis und ‑gewalt zu, durch Gesetze zu bestimmen, in welcher Eigentumsform und in welchem Umfang die Bereiche der gesellschaftlichen Güterproduktion und ‑distribution zum gegenwärtigen wie künftigen Wohl der jeweiligen Nation zu organisieren sind.
So eine Forderung scheint in einem direkten Widerspruch zum anarchistischen Gedankengut zu stehen, welches das Heil gerade in der Abschaffung des Staates sieht. Aber dieser Widerspruch ist nur scheinbar: Der Anarchismus — und selbstverständlich auch der Marxismus — entwickelte sich aus der bitteren Erfahrung heraus, dass der Staat lediglich dafür da war, die Interessen der Reichen und Mächtigen auf Kosten der Schwachen und Mittellosen zu schützen: der Staat als Feind von Gerechtigkeit und Freiheit. Dafür fehlen auch heute die Beispiele nicht.
Die Schweiz hat seit der Neugründung 1848 zwar wichtige Schritte unternommen, einen Staat aufzubauen, der den Bürgerinnen und Bürgern eine grundlegende soziale Sicherheit und demokratische Mitbestimmung garantiert. Aber die knapp verlorene Abstimmung Konzernverantwortungsinitiative 2021 hat aufgezeigt, dass auch wir wirtschaftlich offensichtlich immer noch am “sollen” festhalten.
Von Pechmann fasst zusammen:
Vergleichen wir abschliessend die beiden alternativen Rechtsverhältnisse von Privateigentum und Nationalstaat, so zeigt sich, dass im ersten Fall (“sollen”) in der Tat der Eigenwille des einzelnen als das Dominierende und Bestimmende verfassungsrechtlich anerkannt wird. In ihm wird der Staat als Repräsentant des allgemeinen Willens einer Nation darauf verpflichtet, das private Eigentum der Individuen nicht nur zu schützen, sondern auch zu fördern. Hier ist folglich der auf das Allgemeinwohl gerichtete Wille klar dem aufs Eigenwohl gerichteten Einzelwillen untergeordnet.
Im andern Fall (“müssen”) ist umgekehrt der im Staat repräsentierte allgemeine Wille das Dominierende und Bestimmende, und es ist der private Eigentümer, der im Gebrauch der Sache durch das Recht verpflichtet ist, zugleich dem Allgemeinwohl zu dienen.
Wenn es nun so ist, dass unter der ersten und gegenwärtig geltenden Rechtsordnung zwar der gesellschaftlich produzierte Reichtum wächst, er sich aber in den Händen immer weniger Privateigentümer konzentriert und zudem die Lebensgrundlagen künftiger Generationen gefährdet oder gar zerstört, dann muss, so die Forderung, die genannte Alternative als künftige Rechtsordnung die Lösung dieser sozialen wie ökologischen Probleme enthalten.
Dies impliziert, dass eine am Allgemeinwohl orientierte und plural verfasste Ordnung des Eigentums die rechtliche Grundlage bildet, um den gesamtgesellschaftlichen Reichtum einer Nation effektiv nach dem Prinzip der ökologischen Nachhaltigkeit zu produzieren und zu konsumieren sowie nach dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit zu verteilen. Eine solche Rechtsordnung schliesst das Eigen- und Selbstinteresse nicht aus; sie setzt ihr aber das Mass am Allgemeininteresse der jeweiligen Nation.
Wie sieht es aber nun im Rechtsverhältnis zwischen den Nationalstaaten und den Vereinten Nationen aus? Erinnern wir uns:
In ihm finden zwei gegensätzliche Arten der politischen Willensgemeinschaft ihren Ausdruck: die Gemeinschaft des allgemeinen Willens, der auf das Wohl der Menschheit gerichtet ist und den Zusammenschluss der Nationalstaaten zu den Vereinten Nationen bewirkt; sowie die Gemeinschaft der souveränen Nationalstaaten, die auf das Wohl ihrer eigenen Nation gerichtet sind und daher teils in Kooperation, teils in Konkurrenz zueinander stehen. Diese völkerrechtliche Situation haben wir als “Doppelherrschaft” der Vereinten Nationen und des Vertragssystems der souveränen Nationen bezeichnet.
Kooperation versus Konkurrenz! Ist es möglich, diesen Widerspruch mit einem ähnlichen wie oben geschilderten semantischen Kniff aufzulösen?
Dazu mehr in der nächsten Folge am Freitag, den 7. Juli.
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