Dieser Passus aus dem Rechenschaftsbericht der anonymen Quelle zu den “Swiss Secrets” hat den birsfaelder.li-Schreiberling noch ziemlich beschäftigt:
Ich möchte betonen, dass die Verantwortung für diesen Zustand nicht bei den Schweizer Banken liegt, sondern beim Schweizer Rechtssystem. Die Banken sind einfach gute Kapitalisten und maximieren ihre Gewinne innerhalb des gesetzlichen Rahmens, in dem sie operieren. Einfach ausgedrückt: Die Schweizer Gesetzgeber sind für die Ermöglichung von Finanzkriminalität verantwortlich, und das Schweizer Volk hat aufgrund seiner direkten Demokratie die Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen.
Der (oder die) Whistleblower prangern das Verhalten der Banken als unmoralisch an, sprechen sie aber gleichzeitig von jeglicher Verantwortung für ihre Geschäfte frei, weil sie einfach “gute Kapitalisten” seien mit dem Ziel, möglichst grosse Gewinne einzufahren. Es liege am Schweizer Volk, die Finanzkriminalität einzudämmen.
Vielleicht hat die Beschäftigung mit dem Buch Sheldon S. Wolins, “Umgekehrter Totalitarismus” plötzlich die Frage auftauchen lassen, ob wir das radikale Gewinnstreben von Grossbanken tatsächlich einfach als unabänderliches Naturgesetz betrachten müssen, — oder ob wir es wagen, ein grosses Fragezeichen dahinter zu setzen.
Einer, der ein solches Fragezeichen setzte, ist der vor zwei Jahren unvermutet früh verstorbene Anthropologe und Anarchist David Graeber. Sein letztes zusammen mit dem Historiker David Wengrow verfasste Buch “Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit” (engl. The Dawn of Everything”) stürmte
letztes Jahr die Bestsellerlisten. Darin zerpflücken die beiden Autoren aufgrund neuester anthropologischer und historischer Forschungen und Erkenntnisse lieb gewordene Klischees zur Entwicklung der Menschheit. Fazit: Es gibt in der Geschichte keine determinierten Entwicklungen. Menschen haben immer die Wahl, wohin die Reise gehen soll.
Bekannt wurde Graeber aber schon zehn Jahre zuvor durch einen weiteren Bestseller: “Schulden. Die ersten 5000 Jahre”. In seiner Einleitung schildert er ein Gespräch, das sich um die Rückzahlung eines Kredits durch ein Entwicklungsland drehte:
»Aber«, wandte sie ein, als wäre das offensichtlich, »sie hatten sich das Geld geliehen! Schulden muss man doch zurückzahlen.«
An dieser Stelle wurde mir klar, dass das Gespräch ganz anders verlaufen würde, als ich es mir ursprünglich vorgestellt hatte.
Wo sollte ich anfangen? Ich hätte damit anfangen können zu erklären, wie diese Kredite ursprünglich von selbsternannten Diktatoren aufgenommen worden waren, die den größten Teil des Geldes direkt auf ihre Schweizer Bankkonten überwiesen, und ich hätte sie fragen können, ob sie es gerecht fand, wenn man darauf beharrte, dass die Gläubiger ihr Geld nicht von dem Diktator oder seinen Kumpanen zurückerhielten, sondern indem sie buchstäblich hungrigen Kindern das Essen wegnahmen. Oder denken wir nur daran, wie viele dieser armen Länder durch das Wunder des Zinseszinseffekts bis heute das Drei- oder Vierfache der geliehenen Summen zurückgezahlt haben, und trotzdem hat sich ihre Kreditsumme kaum verringert.
Graeber setzt ein grosses Fragezeichen hinter die “moralische Verpflichtung” der Schuldenrückzahlung. Schulden nicht zurückzahlen, — auf so eine Idee kann auch nur ein Anarchist kommen 😉 …
Er war auch einer der Mitorganisatoren der “Occupy Wall Street”-Bewegung 2011. Seine Beweggründe fasste er in der Bucheinleitung so zusammen:
Im September 2008 setzte eine Finanzkrise ein, die beinahe die gesamte Weltwirtschaft knirschend zum Stehen gebracht hätte. Vieles stand tatsächlich still: Schiffe fuhren nicht mehr über die Meere, Tausende landeten im Trockendock. Kräne wurden abgebaut, weil kein Gebäude mehr errichtet wurde. Banken vergaben so gut wie keine Kredite mehr. Im Gefolge dieser Vorgänge gab es nicht nur öffentliche Wut und Verwirrung, sondern es setzte auch eine echte öffentliche Diskussion ein über die Natur von Schulden, des Geldes und der Finanzinstitutionen, die das Schicksal ganzer Staaten fest im Griff hatten.
Aber das war nur ein Augenblick. Die Diskussion wurde nie richtig geführt. Die Menschen waren für eine solche Diskussion bereit, weil die Geschichte, die alle seit mindestens zehn Jahren gehört hatten, sich als eine gigantische Lüge entpuppte. Man kann es einfach nicht freundlicher ausdrücken. Seit Jahren war die Rede von immer neuen, höchst raffinierten Finanzinnovationen: von Kredit und Warenderivaten, hypothekenbesicherten Schuldderivaten, Hybridanleihen, Kreditausfallswaps und so weiter. Die Märkte für diese neuen Derivate waren so unglaublich raffiniert, dass – so ging ein hartnäckiges Gerücht – eine bekannte Investmentfirma Astrophysiker für die Abwicklung von Handelsprogrammen einstellte, die so komplex waren, dass die Banker sie nicht einmal ansatzweise verstanden.
Die Botschaft ist klar: Überlasst diese Dinge den Leuten, die sich damit auskennen. Ihr versteht sie ja doch nicht. Selbst wenn ihr Finanzkapitalisten nicht besonders mögt (und es gab offensichtlich nur wenige, die Liebenswürdiges an ihnen fanden), waren sie jedenfalls fähig, tatsächlich so übermenschlich fähig, dass eine demokratische Kontrolle der Finanzmärkte einfach nicht in Frage kam. (…)
Als sich die Aufregung gelegt hatte, stellte sich heraus, dass viele oder sogar die meisten nur sehr raffinierte Betrugsmanöver gewesen waren. Man hatte armen Familien Hypotheken verkauft, bei denen der Ausfall von vornherein unvermeidlich war, und Wetten abgeschlossen, wie lange es dauern würde, bis die Kreditnehmer nicht mehr zahlen konnten. Die Hypotheken und Wetten hatte man dann zu Paketen verschnürt und an institutionelle Investoren verkauft (zum Beispiel die Pensionskasse des Hypothekenschuldners konnte auch dabei sein) mit der Behauptung, das Paket werde Geld einbringen, ganz gleich, was passieren sollte, und besagte Investoren konnten die Pakete weiterreichen, als wären sie Geld.
Die Verantwortung für die Auszahlung der Wette wurde einem gigantischen Versicherungskonzern übertragen, der, falls er unter dem Gewicht der daraus resultierenden Schulden zusammenbrechen sollte (was unweigerlich passieren würde), von den Steuerzahlern gerettet werden müsste (und tatsächlich wurden solche Konzerne mit Steuergeld gerettet). Mit anderen Worten: All das sah aus wie eine ungewöhnlich raffinierte Version dessen, was die Banken getan hatten, als sie Ende der 1970er Jahre den Diktatoren in Bolivien und Gabun Geld liehen: Sie vergaben schlichtweg unverantwortliche Kredite in dem vollen Wissen, dass Politiker und Bürokraten alles daransetzen würden, sobald es bekannt wurde, ihnen wieder zu ihrem Geld zu verhelfen, unabhängig davon, wie viele Menschenleben das kostete.
Doch diesmal trieben die Banker ihr Spiel in unvorstellbar großem Stil: Die Gesamtsumme der Schulden, die sie aufgetürmt hatten, überstieg das Bruttoinlandsprodukt aller Länder der Welt zusammen – brachte die Welt ins Trudeln und hätte das System beinahe zerstört.
Ist das inzwischen Geschichte? — Leider nicht, muss man erkennen, wenn man im Infosperber die Kommentare von Redaktor Urs P. Gasche und von Uni-Professor Marc Chesney zur Kenntnis nimmt. Einen weiteren Artikel schliesst dieser mit der bitteren Einsicht:
Die zynischen und extremistischen Brandstifter sind zwar klein an der Zahl, aber sie verfügen über wirksame Druckmittel mächtiger Interessenvertreter. Sie verweigern Regulierungen jeglicher Art, sei es in Bezug auf Umwelt, Finanzen, Gesundheit oder sogar Demokratie, und tanzen, solange die Musik spielt. Es ist höchste Zeit, diese Party zu beenden.
Wir bleiben in der nächsten Folge noch etwas bei David Graeber, und dies wie immer
am kommenden Freitag, den 20. Mai.
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