Der 2015 ver­stor­be­ne, zuletzt an der Prince­ton Uni­ver­si­ty leh­ren­de Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Shel­don S. Wolin ver­öf­fent­lich­te 2008 als 86-Jäh­ri­ger sein letz­tes gros­ses Werk “Demo­cra­cy Incor­po­ra­ted: Mana­ged Demo­cra­cy and the Spec­ter of Inver­ted Tota­li­ta­ria­nism”, im Febru­ar die­ses Jahr unter dem Titel “Umge­kehr­ter Tota­li­ta­ris­mus” erschienen.

Um es etwas salopp aus­zu­drü­cken: Das Buch ist “star­ker Tobak”. Wolin geht mit dem, was heu­te als “demo­kra­tisch” ver­kauft und bezeich­net wird, hart ins Gericht. So sieht er die Demo­kra­tie in den USA ledig­lich noch als “Mar­ken­na­me für ein Pro­dukt, das zu Hau­se kon­trol­lier­bar und im Aus­land ver­markt­bar ist”. Ja er fragt sich sogar, ob es sich bei der Ver­wen­dung die­ses Begriffs ledig­lich noch um “eine zyni­sche Ges­te” hand­le, “mit der eine zutiefst mani­pu­la­ti­ve Poli­tik getarnt wer­den soll.”

Macht es Sinn, sich heu­te ange­sichts des bru­ta­len Über­falls der Ukrai­ne durch Putin, der in Russ­land erneut ein repres­si­ves und tota­li­tä­res Regime ein­ge­rich­tet hat, mit der radi­ka­len Kri­tik an der Super­macht USA aus­ein­an­der­zu­set­zen, die doch gera­de dar­an ist, den Frei­heits­kampf der Ukrai­ne mas­siv zu unterstützen?

Das tut es durch­aus, weil Wolin Ent­wick­lun­gen poli­ti­scher Ent­mün­di­gung beschreibt, die auch bei uns in Euro­pa — viel­leicht sogar in der Schweiz? — zu fin­den sind.

Ein Bei­spiel: Wolin pos­tu­liert eine grund­sätz­li­che Unver­ein­bar­keit ech­ter demo­kra­ti­scher Struk­tu­ren mit dem Kapi­ta­lis­mus, ins­be­son­de­re in der heu­ti­gen ent­fes­sel­ten neo­li­be­ra­len Variante.
Demo­kra­tie und Kapi­ta­lis­mus als Gesell­schafts­form sind fun­da­men­tal mit­ein­an­der unver­träg­lich, weil sie auf gera­de­zu ent­ge­gen­ge­setz­ten Funk­ti­ons­prin­zi­pi­en beru­hen. Die Demo­kra­tie beruht auf dem Gleich­heits­prin­zip bei der Ver­ge­sell­schaf­tung von Macht. Der Kapi­ta­lis­mus hin­ge­gen beruht in sei­nen Funk­ti­ons­prin­zi­pi­en gera­de auf der Ungleich­heit des Eigen­tums an Pro­duk­ti­ons­mit­teln. (aus dem Vorwort)

Rai­ner Maus­feld, eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor für All­ge­mei­ne Psy­cho­lo­gie an der Uni­ver­si­tät Kiel und Ver­fas­ser des aus­ge­zeich­ne­ten Vor­worts zum Buch, zitiert dazu den ehe­ma­li­gen Minis­ter und CDU-Poli­ti­ker Nor­bert Blüm:
Wir haben es mit einer Wirt­schaft zu tun, die sich anschickt, tota­li­tär zu wer­den, weil sie alles unter den Befehl einer öko­no­mi­schen Ratio zu zwin­gen sucht. Aus Markt­wirt­schaft, also ein Seg­ment, soll Markt­ge­sell­schaft wer­den. Das ist der neue Impe­ria­lis­mus. Er erobert nicht mehr neue Gebie­te, son­dern macht sich auf, Hirn und Herz der Men­schen ein­zu­neh­men. Sein Besat­zungs­re­gime ver­zich­tet auf kör­per­li­che Gewalt und besetzt Zen­tra­len der inne­ren Steue­rung des Menschen.

Wolin spricht in die­sem Zusam­men­hang von “gelenk­ter Demo­kra­tie”:
In einer »gelenk­ten Demo­kra­tie« kann die Bevöl­ke­rung in ihrem poli­ti­schen Wil­len per­fekt kon­trol­liert wer­den, ohne dass es den Anschein hat, sie wür­de unterdrückt.
»Unter­neh­mens­geld kauft Kan­di­da­ten, finan­ziert Kam­pa­gnen, heu­ert Lob­by­is­ten an und hält ein Heer von Exper­ten, vor allem aka­de­mi­sche, an lan­gem Zaum­zeug und an kur­zen Lei­nen.« (Wolin, 2016, S. 375) Zudem wür­de bereits die Her­stel­lung von Mei­nun­gen durch die Medi­en mit­hil­fe aus­ge­feil­ter Tech­ni­ken der »Kunst der Mei­nungs­ma­che und der Mani­pu­la­ti­on« (S. 138) kon­trol­liert, sodass die Wäh­ler so bere­chen­bar gemacht wor­den sei­en wie Kon­su­men­ten (S. 123).
Infol­ge­des­sen sind Wah­len in kapi­ta­lis­ti­schen Demo­kra­tien zwar for­mal, nicht jedoch psy­cho­lo­gisch frei, weil Kapi­tal­macht bereits den Pro­zess der Mei­nungs­er­zeu­gung höchst wir­kungs­voll steu­ert. (aus dem Vorwort)

Wolin greift auch die Kri­tik von Alexis de Toc­que­vil­le auf, dass im Libe­ra­lis­mus eine imma­nen­te Gefahr bestehe, eine “sozi­al ato­mi­sier­te und damit radi­kal ent­po­li­ti­sier­te Gesell­schaft” zu erzeu­gen. Maus­feld führt, was damit gemeint ist, in sei­nem Vor­wort aus­führ­lich aus:

In der Kon­zep­ti­on des Libe­ra­lis­mus bil­den näm­lich die ego­is­tisch ihre Pri­vat­in­ter­es­sen ver­fol­gen­den Ein­zel­nen das Fun­da­ment von Gesell­schaft. Sozia­le Bezie­hun­gen blei­ben als ein ratio­na­les Aus­han­deln von Nut­zen­er­wä­gun­gen den Indi­vi­du­en äußer­lich und sind über ihren Nut­zen­cha­rak­ter hin­aus von mora­li­scher Gleich­gül­tig­keit geprägt: »Jeder steht in sei­ner Ver­ein­ze­lung dem Schick­sal aller andern fremd gegen­über.« (Toc­que­vil­le 1840/1987, S. 463) 

Die­ser ato­mi­sie­ren­de Indi­vi­dua­lis­mus, der die poli­ti­sche Bedeu­tung von Ideen der Gemein­schaft und Kol­lek­ti­vi­tät leug­net und das all­ge­mei­ne Inter­es­se auf das freie Spiel von kon­kur­rie­ren­den Pri­vat­in­ter­es­sen redu­ziert, dro­he letzt­lich den Men­schen »in die Ein­sam­keit sei­nes eige­nen Her­zens ein­zu­schlie­ßen« (Toc­que­vil­le, 1840/1987, S. 127). Er mün­de in eine poli­ti­sche Apa­thie, eine Erstar­rung des poli­ti­schen Lebens und eine Ent­lee­rung des poli­ti­schen Raumes. 

Da, so Wolin, im Libe­ra­lis­mus »der Bür­ger, als der ent­schei­den­de Akteur in der Theo­rie der Demo­kra­tie, mit dem Homo oeco­no­mic­us ver­schmel­ze« (Wolin 2004, S. 589), kom­me es zu dem bereits von Toc­que­vil­le vor­aus­ge­sag­ten Ver­fall demo­kra­ti­scher Idea­le und par­ti­zi­pa­ti­ver poli­ti­scher Kul­tur. In der libe­ra­len besitz­in­di­vi­dua­lis­ti­schen Kon­zep­ti­on von Frei­heit wird Frei­heit als das Recht auf Kon­sum ver­stan­den und der Bür­ger als Kon­su­ment auf einem Markt. 

Folg­lich ist die libe­ra­le kapi­ta­lis­ti­sche Demo­kra­tie eine Zuschau­er-Demo­kra­tie und zugleich eine Kon­su­men­ten-Demo­kra­tie. Sie sucht gera­de­zu zu ver­hin­dern, dass Bür­ger einen poli­ti­schen Par­ti­zi­pa­ti­ons­an­spruch erhe­ben. Ihr Ide­al­typ des Bür­gers sei, so Wolin, der poli­ti­sche »Zuschau­er-Kon­su­ment« (S. 300). Als »Zuschau­er­Kon­su­men­ten« wer­den die Bür­ger in einer dop­pel­ten Ohn­macht gehal­ten. In bei­den Rol­len kön­nen sie zwi­schen Optio­nen ›wäh­len‹, die ihnen von außen vor­ge­ge­ben wur­den: »Auf die­se Wei­se wur­de ein Wun­der der Trans­sub­stan­tia­ti­on voll­bracht. Die Volks­sou­ve­rä­ni­tät ging in wirt­schaft­li­cher Ohn­macht auf und die Kon­su­men­ten­sou­ve­rä­ni­tät in poli­ti­scher Ohn­macht.« (Wolin, 2004, S. 576) 

Es lohnt sich, dar­über nach­zu­den­ken, inwie­fern auch die Schwei­zer Demo­kra­tie von die­sen Pro­zes­sen betrof­fen sein könnte.

In der nächs­ten Fol­ge unter­su­chen wir den Begriff Wolins “Umge­kehr­ter Tota­li­ta­ris­mus” noch etwas genau­er, und dies wie immer

am kom­men­den Frei­tag, den 29. April

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